Stephan Bodzin – Ein Weg ins Glück

Credit: Kenton Thatcher

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Manchmal ist es doch eben die entferntere Sicht auf Dinge, die diese besser und unversehens klarer erscheinen lassen. Energien, die zu fließen beginnen und mit zunehmendem Fluss maßgeblich sinnstiftend auf etwas wirken. Für eine Sache, die vielleicht zunächst schwer, aber urplötzlich so leicht erscheint. So in etwa könnte man die rund achtwöchige Reise von Stephan Bodzin nach Trancoso in Brasilien bezeichnen. Dort blickte der gebürtige Bremer auf sein unveröffentlichtes Musikarchiv, aus dem er 25 Favoriten auswählte. Aus diesen hat er 17 Titel finalisiert, die nun unter dem Titel „Boavista“ am 8. Oktober sowohl digital als auch physisch auf Vinyl erscheinen. Nach den beiden von Fans und Kritiker*innen gleichermaßen frenetisch gefeierten Werken „Liebe ist …“ aus 2007 sowie „Powers Of Ten“ in 2015 bedeutet das nun anstehende Werk also sein drittes Soloalbum.

Und auch auf diesem schafft Bodzin es, mit jedem einzelnen Titel Geschichten und musikalische Bilder zu erzählen respektive diese zu kreieren. Eine daraus resultierende Evidenz in der Bodzinschen Kunst, die schon immer einen enorm hohen Stellenwert hatte: große Emotionen. Emotionen, die bereits bei den Titelnamen beginnen und bei der unnachahmlichen Art und Weise fortschreiten, wie er diese auf den Bühnen dieser Welt performt und dabei seinem Namen als einem der begnadetsten Liveacts der elektronischen Szene alle Ehre macht. Vor wenigen Wochen hat Stephan Bodzin seine Zelte in Bremen abgebrochen, um sie kurzerhand im portugiesischen Lissabon wieder aufzuschlagen. Und genau dort, in der Sonne am nordwestlichen Ende des Tejo, bevor dieser in die Weiten des Atlantik mündet, haben wir ihn getroffen.

Stephan, Glückwunsch zum neuen Werk. Sechs Jahre nach „Powers Of Ten“ erscheint „Boavista“, namentlich mit einem starken Bezug zu deiner neuen Heimat Portugal. Wie entstand diese Verbindung?

Um ehrlich zu sein, wollte ich schon immer etwas „Boavista“ nennen. Einen Song, ein Album, ein Buch. Aber da ich nun einmal nicht schreibe, hat es sehr zum Album jetzt gepasst und sogar für den Titeltrack darauf. Der Name bezieht sich auf eine unglaublich schöne Zeit, die ich 2011 hier in Lissabon hatte, wo wir rund ein dreiviertel Jahr in der „Rua Boavista“ gewohnt haben.

Wie entstand damals überhaupt die Idee, für fast ein Jahr ins Ausland zu gehen?

Durch eine große Zeit der Langeweile und des Überdrusses in Bremen, sodass wir uns irgendwann ins Auto gesetzt haben. Ein FIAT 500 damals, vollgestopft mit meinem Studio, ein paar Badsachen und Getränke für den Weg, mehr braucht man ja nicht (lacht). Diese Zeit in Portugal haben wir seitdem immer im Hinterkopf behalten, da es sich fraglos wie ein zweites Zuhause angefühlt hatte. Und nun haben wir unser erstes Zuhause daraus gemacht und sind komplett hergezogen. Auch und vor allem die Corona-Zeit hat uns nochmal vor Augen geführt, wie endlich doch alles ist und dass nichts im Leben wirklich sicher ist. Daher freut es mich sehr, hier nun an diesem wunderschönen Fleckchen Erde zu leben.

Die Stadt hat sich in den letzten zehn Jahren sehr gewandelt, welche Momente sind dir aus 2011 besonders in Erinnerung geblieben?

Unzählige. Darunter z.B. Koriander vom Busch essen in der Markthalle unten am Cais do Sodré, wo ich dreimal die Woche frischen Fisch gekauft habe. Mittlerweile wurde die Halle zum „Time Out Market“ umgewandelt und ist äußerst touristisch geworden, aber damals habe ich es geliebt, dort morgens herumzuschlendern. Auch sind wir nahezu jeden Tag über die berühmte Brücke an die Costa da Caparica gefahren, um wenigstens zwei Minuten ins 15 Grad kalte Wasser zu springen. Gerne länger, ging aber leider damals und auch heute einfach nicht, haha. Dazu fantastische Restaurants, eine beeindruckende Weite hier an der Flussmündung zum Atlantik. Ich hatte zwar die Weser in Bremen, aber der Tejo ist dann doch etwas imposanter und faszinierender.

Du hast dein gesamtes Leben in Bremen verbracht und bist nun knapp zwei Monate in Portugal. Wie waren die ersten Wochen?

Das stimmt, ich war 50 Jahre in Bremen, und wer genau googelt, wird feststellen, dass es sogar etwas länger war (lacht). Und ich vermisse, um ehrlich zu sein, gar nichts. Es war schön, eine Homebase zu haben, vor allem in den letzten 15 Jahren, wo das Reisen auf dem gesamten Planeten eine derart zentrale Rolle in meinem Leben eingenommen hat. Und es war sehr schön, Freunde und Familie an einem Ort vereint zu haben. Während Corona und der fehlenden Reisen haben wir dann aber doch recht schnell gemerkt, dass die Stadt kleiner ist als gedacht, es noch viele andere schöne Orte auf diesem Erdball gibt und es eigentlich gar keinen Anlass gibt, nicht mal wegzuziehen. Irgendwie hatten wir das Gefühl, dass wir weiterhin in Europa leben möchten. Dieser Kontinent hat natürlich wahnsinnig viele wunderschöne Orte. Aber Lissabon ist so mit die südlichste Metropole, der Sonne am nächsten, und die Mentalität hier spiegelt das auf eine schöne Art und Weise wider. Die Menschen hier beschweren sich auch, aber mit einem Lächeln im Gesicht. In Deutschland neigen die Mundwinkel ja eher dazu, zum Boden zu zeigen. Ja, die Bürokratie hier ist noch schleppender als in Deutschland, statt vier Minuten für eine Kontoeröffnung braucht es hier auch schon mal vier Stunden. Aber danach ist man Freund mit dem Bankberater und lädt ihn zum Essen ein (lacht). Ich bin per Du mit dem Bäcker um die Ecke, der mir schon nach wenigen Tagen meinen doppelten Espresso hinstellt, ohne dass ich ihn noch bestellen muss. Ab und an schippern wir mit einem kleinen Segelboot den Tejo auf und ab, nichts Dekadentes, aber wahnsinnig erfüllend. Ich empfinde dieses Leben als äußerst befreiend und sehr privilegiert und freue mich sehr, ein Teil dieser Mentalität – der ich mich sehr verbunden fühle – zu werden.

Das klingt in der Tat großartig. Wenn Freund*innen für ein Wochenende vorbeischauen, was sind deine absoluten Must Dos?

Pizza essen im Hause Bodzin auf alle Fälle, ich habe gehört, die soll sehr gut sein. Ansonsten wie bereits erwähnt einmal über den Tejo mit dem Boot, am besten zum Sonnenuntergang. Am Tejo lässt es sich übrigens auch wahnsinnig gut spazieren, es gibt quasi in beide Richtungen eine traumhafte Kulisse – entweder die Brücke und die Stadt in die eine, oder den Atlantik in die andere. Die Museen-Vielfalt sucht hier ihresgleichen, für jeden Geschmack ist etwas dabei. Dann natürlich essen gehen, essen gehen und definitiv essen gehen. Dabei Tripadvisor nach Möglichkeit ignorieren. Das „Casa da India“ in der Stadt ist eine absolute Empfehlung, sagenhaft ehrlich und authentisch. Natürlich auch einen Beach auf der anderen Seite der Brücke anfahren, die Costa da Caparica bietet kilometerlange Traumstrände. Den Surfern zuschauen sowie auch das Umland erkunden z.B. in Richtung Sintra. Das Nachtleben soll auch gut sein, da halte ich mich berufsbedingt aber eher zurück. Der Bairro Alto ist in Sachen Bars auch unter der Woche ein Magnetpunkt und das 365 Tage im Jahr.

Die Natur und das Meer scheinen dein Gemüt maßgeblich zu beeinflussen. Die produktivste Arbeitsphase zu „Boavista“ hattest du in Trancoso, einem sehr idyllischen Stadtteil von Bahia in Brasilien.

Es scheint so, in der Tat. Ich habe mich dort in Brasilien sehr entspannt gefühlt. Es gab oder gibt in meinem Leben sehr oft Momente, in denen ich mir unfertige Sachen von mir angehört habe und der Meinung war, es sei nicht gut genug. Das ist wohl auch der Grund dafür, warum ich so selten etwas veröffentliche. Mir wurde scheinbar recht häufig eingetrichtert, vermutlich als Kind, dass ich irgendwie nicht gut genug sei. Daraus resultierend entsteht eine gewisse Unsicherheit und auch Anspannung. Diese zwei Monate in Trancoso allerdings haben ganz andere Seiten in mir hervorgerufen, völlig losgelöst auch von Erwartungshaltungen des Publikums dort draußen. Das hat für eine grundlegende Entspannung und Fokussierung gesorgt, mit der ich das Album fertig machen konnte. Ich habe zwar danach noch zwei bis drei Wochen im Studio Feinheiten erledigt, aber im Prinzip wurde das Album dort Abend für Abend mit einer halben Flasche Wein und uneingeschränktem Blick auf die Milchstraße finalisiert, ja.

Was war dein Hauptantrieb, nach 2015 wieder ein Album zu machen?

Der Drang, für mich etwas zu verändern. Also auch wie bei meinem letzten Album. Damals wollte ich unbedingt live spielen und habe Material dafür gebraucht, nun wollte ich endlich mal wieder neue Sachen spielen. Als DJ hat man ja permanent neues Futter und kommt fast nicht mehr hinterher vor lauter Futter. Als Live-Künstler hat man es schon deutlich schwerer. In den letzten Monaten gab es in meinen Sets immer häufiger „IDs“ von unfertigen Stücken, die irgendwann halt einfach zum Tonträger manifestiert werden mussten. Die Album-Uraufführung fand Mitte September beim „Afterlife“-Event in New York City statt, und es war großartig. Das „Brooklyn Mirage“ ist für mich sowieso eine der schönsten, wenn nicht sogar die schönste Location in Nordamerika, daher hat es mich sehr gefreut, die neuen Sachen dort erstmals zu spielen.

Mit insgesamt 17 Titeln hast du jetzt definitiv ausreichend Material für eine Liveshow.

Ja, die 17 Tracks sind auch eigentlich fünf zu viel, aber irgendwie sind mir alle Stücke so ans Herz gewachsen, dass ich keins davon aussortieren wollte. Und so gibt es eben auch mehr Content für die Liveshow, richtig. Die älteren Sachen laufen dann hintendran als Zugaben, für alle, die möchten und noch nicht genug hatten (lacht).

Alle Titel-Namen haben – mal mehr, mal weniger – eine persönliche Geschichte. So heißt „Astronautin“ zum Beispiel so, weil deine Tochter recht früh ihren Berufswunsch geäußert hat, korrekt?

So war es. Und ja, im Prinzip gibt es zu nahezu jedem Track-Titel eine sehr persönliche Verbindung. Meine Mutter ist im letzten Jahr verstorben. Sie hatte ein großartiges Leben und ist friedlich eingeschlafen. In dem Moment, wo ich das erfahren habe, habe ich Klavier gespielt. Genau diese Passage habe ich festgehalten und es freut mich sehr, dass ich nun den Titel „Rose“ in Andenken auf dem Album habe. Eine tolle Erinnerung. Jedes Mal, wenn ich den Titel spiele, ist meine Mutter total präsent irgendwie. „LLL“ zum Beispiel ist den drei wichtigsten Menschen in meinem Leben gewidmet, „Earth“ ist eine Hommage an die wichtigsten Elemente des Lebens, wie Wasser, Feuer, Wind, Zeit, Licht, aber auch Rotation des Planeten. Es geht bei vielen auch um naturwissenschaftliche Sachen, und die Geschichte des Albums könnte man eigentlich mit „Infinite Monkey“ beschreiben, der gleichnamigen Wahrscheinlichkeitstheorie. Die besagt ja, dass ein Affe, der unendlich lange zufällig auf einer Schreibmaschine herumtippt, fast sicher irgendwann alle Bücher in der Nationalbibliothek Frankreichs schreiben wird – es ist nur eine Frage der Zeit.

Also war der Track so etwas wie ein Zufallsprodukt?

Im Studio passiert es mir beim Durchhören bzw. Ausmisten von Songs ganz oft, dass ich ganz viele einzelne Elemente doch toll finde und mir diese für später speichere. Und der Titel ist so etwas wie das Ergebnis von ganz vielen dieser Elemente. Zusammengewürfelt dann in Brasilien. Bei „Collider“ war es die Kombination aus einer weichen Melodie und einem knarzigen Bass, die mir total gut gefällt. Es kollidieren zwei Welten, die ein Gefühl erzeugen – irgendwie ein Strickmuster in meiner Musik.

Wie würdest du die Unterschiede deiner drei bisherigen Soloalben bezeichnen? Ich habe das Gefühl, du kannst mittlerweile viel befreiter „aufspielen“. So klingt es zumindest.

Das stimmt total. Ich habe irgendwann akzeptiert, dass ich der bin, der ich bin, das mache, was ich mache und eben das kann, was ich kann. Das Ergebnis dessen ist daher sicherlich befreiter und selbstbewusster. Ich habe mich lange gefragt, ob ich wirklich ein Album machen kann, wo fast 20 Titel eine ähnliche Struktur in Sachen Bassline und Co. haben. Ob es nicht eher sophisticated und frischer klingen sollte. Das lag natürlich mitunter an der Tatsache, dass wohl keiner meine Titel so häufig hört wie ich selbst, weil ich sie eben so oft spiele. Mit den eben erwähnten Umständen in Trancoso habe ich aber einen gesunden Abstand zu meiner Musik gewonnen. Und genau dann habe ich verstanden, dass eben genau das meine Handschrift ist und ich diese ganz gerne mag. Mittlerweile lebe ich mit dieser Erkentnnis ein viel entspannteres Leben, als ich das noch vor einem Jahr getan habe.

Du hast deinen Sound in den letzten Jahren par excellence gebrandet, und die Fans wissen mittlerweile, was sie bei dir bekommen. Könnte man das so ausdrücken?

Hätte man sich früher im Laden ein Album von Metallica gekauft, was aber dann nach AC/DC klingt, wäre man sicherlich enttäuscht gewesen. Genauso wie man heute auf einem Album von Tale Of Us keinen Sound von Charlotte de Witte hören möchte. Beides ist toll, beides ist totaler Signature-Sound von der/dem jeweiligen Künstler*in und hat seine Berechtigung, aber es sind doch eben zwei verschiedene Welten. Und daher sollte auf einem Bodzin-Album am Ende auch Bodzin-Sound zu hören sein, ja.

Von „Liebe ist …“ aus 2007 zu „Powers Of Ten“ bist du von Logic auf Ableton umgestiegen. Der Moog Sub 37 hat vor sechs Jahren eine wichtige Rolle eingenommen. Damals war dein eigener und mittlerweile famoser Plexiglas-Controller in den letzten Zügen der Entwicklung bei Tom Würzbach aus Stuttgart.

Wie die Zeit vergeht, ja. Der Moog war auch bei diesem Album omnipräsent. Die Sounds zum Album jetzt hatte ich bereits alle 2020 aufgenommen, bis auf „Boavista“. Der Song gilt ja mittlerweile als alter Hund, der Herstellungstag ist im Internet ja mit einem tatsächlich zufälligen Video, das recht viral gegangen ist, bestens dokumentiert (lacht). Und mein Controller ist mittlerweile so populär, dass es schon die ersten Nachbauten innerhalb der Szene gibt. Das ehrt mich natürlich und bringt mich zum Lachen, weil ich ohne jeden Zweifel weiß, dass keiner dieser Nachbauten dem Workflow meines Controllers auch nur ansatzweise nahekommt. Aufgrund meiner Übersicht über alle existierenden Midi-Controller auf dem Markt weiß ich, dass meiner der einzige ist, der aus dem Computer ein vollwertiges Instrument macht. Darum ging’s und das macht er sehr gut.

Wird es dennoch Änderungen an deinem bestehenden Live-Setup geben?

Ja, es wird eine Art Umbau geben. Aktuell spiele ich rechts mit einem Moog Subsequent 37 und dem Controller mittig vor mir. Nun werde ich ein weiteres Gerät, aussehend wie der Controller, daneben stehen haben und links neben mir ebenfalls einen Synthesizer. Natürlich auch in Plexiglas, weil ich den Look einfach sehr schick finde. Dazu noch einen semi-modularen Moog Matriarch, damit wird mein Fuhrpark sozusagen verdoppelt. Neben dem Controller kommt noch, in ähnlicher Baugröße, ein Modor Drumcomputer. Modor ist eine kleine Firma aus Antwerpen, die in Sachen Percussion sehr abgefahrene Sachen macht. Auf dem Album sehr häufig eingesetzt. Und ja, auch diesen habe ich mir natürlich in Plexiglas umbauen lassen (lacht).

In Sachen Liveshow und Performance hat man bei dir das Gefühl, dass deine Euphorie über die Jahre hinweg nur noch größer wird.

Es wird mir einfach auch immer präsenter, wie gerne ich performe, und auch nach all den Jahren auf Tour nimmt diese Euphorie dahingehend de facto nicht ab, das kann ich bestätigen. Dieses privilegierte Gefühl, dort oben zu stehen und Emotionen sowohl zu geben als auch zu empfangen – das fasziniert mich Wochenende für Wochenende. Und diese Emotionen decken dabei sämtliche Welten ab, von Fröhlichkeit bis hin auch zu Trauer. Vor ein paar Wochen habe ich z.B. „Rose“ als letzte Nummer gespielt und hatte schon ein paar Drinks. Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben während einer Show angefangen zu weinen aufgrund der Erinnerungen an meine Mutter. So sehr, dass ich in die Knie gehen musste. All diese Emotionen sind Teil meiner Musik, die mich tagtäglich antreibt und die ich noch lange machen will. Und jetzt freue ich mich, dass ich so viel neuen Content mit der Welt draußen teilen kann. Dazu erneut mit unglaublichen Visuals von Daniel Rossa aus Bremen, der auch schon bei „Powers Of Ten“ fantastische Arbeit abgeliefert hat und die kommende Show auch visuell wieder auf ein neues Level hebt.

Das äußerst bunte Cover zum Album lässt Farbenfrohes erahnen.

Beim letzten Album ging es bei den Visuals eher reduzierter und in schwarz-weiß zu Gange, „Boavista“ hingegen verbinde ich mit purer Lebensfreude und nehme es als Metapher für eben jene, wie der Name schon sagt, Sicht aufs Leben. Diese ist bei mir durchweg positiv. „Boavista“ hat aber auch viele andere Bedeutungen, eine gute Sicht aus dem Fenster ist auch eine „Boa Vista“, was auf Portugiesisch eben gute Sicht heißt. Das sollte jeder für sich entscheiden, ich finde eine gute und klare Sicht auf das Leben, auf die essenziellen Dinge und vor allem auch auf sich selbst enorm wichtig. Für mich ist „Boavista“ also so etwas wie der Weg zum Glück. Und auch wenn ich weiterhin meistens Schwarz trage, stehe ich sehr auf buntes Zeug und daher auch die Verabredung mit dem Designer, das Thema so bunt, wie es nur irgendwie geht, zu gestalten. Aller Voraussicht nach werden die Visuals am 6. November im „Printworks“ in London erstmals gezeigt und wer die Venue kennt, weiß, wie prädestiniert die Wände dort für so etwas sind. Alle Facebook-Header, die wir in den letzten Wochen hochgeladen haben, sind Teil eines einzigen Covers. Und aus diesem Cover sind wiederum Algorithmen entstanden für jede Nummer, die ich dann live auch modellieren kann. Weitere namhafte digitale Künstler arbeiten aktuell an Face-Filtern zur Promotion des Albums, darauf freue ich mich auch sehr. Das Auge hört ja bekanntlich mit.

Wenn wir schon bei Bildern sind. Bei unserem letzten Interview 2015 sagtest du: „Ich folge immer einem Gefühl, einem Bild, meiner Stimmung. Wenn das nicht gegeben ist, macht es für mich keinen Sinn, mich ins Studio zu setzen.“

Um etwas fertig zu machen, brauche ich in der Tat eine etwas fortgeschrittene Idee von einem Bild. Das muss quasi über eine Kante gleiten und dann nimmt es oftmals seinen Lauf. Wenn es diesen Punkt aber nicht erreicht, sitze ich auch mal ein paar Tage sinnlos im Studio herum und nehme eine Melodie nach der anderen auf, ohne dabei den Fokus zu finden. In Trancoso wusste ich aber, dass ich nur eine begrenzte Zeit hatte mit diesem guten Flow vor Ort. Da ist also eine Uhr runtergelaufen, in einer total freien Situation. Daher war es mein größtes Anliegen, jeden Tag einen Track fertigzumachen. 25 Tage, 21 Titel – Ziel fast erreicht. Das Bild war jedenfalls fast gänzlich gegeben und musste dann nur noch zu den 17 finalen Stücken feingeschliffen werden.

Während viele bekannte Künstler*innen in ihrem Leben eine Karriere führen, ehe es still um sie wird, hast du für viele Fans dort draußen und auch für mich, in deinem Leben bislang gefühlt mehrere Karrieren auf die Beine gestellt. Nach wilden Pseudonymen in den 90er-Jahren waren vor allem die letzten zwei Jahrzehnte geprägt von einem immer wiederkehrenden Stephan Bodzin, der wellenförmig immer noch größer und größer zu werden schien. Wie siehst du das? 

Ich glaube, das resultiert, um es so direkt auszudrücken, aus der Angst zu scheitern und zu versagen. Weder mit 18, noch mit 28, 38 oder gar mit 48 habe ich es in Betracht gezogen, als Künstler nicht erfolgreich zu sein. Ich habe mit 18 gesagt, das ist mein Weg und diesen werde ich gehen, koste es, was es wolle. Das habe ich nie mit brachialer Gewalt und auch nie auf Kosten anderer gemacht, dazu bin ich menschlich gar nicht in der Lage. Aber alles, was mir möglich war, habe ich in meinem Leben dahingehend immer gemacht und werde ich auch weiterhin machen. Nicht nur, um mich als Künstler zu verwirklichen, sondern auch, um damit Erfolg zu haben. Diese Balance, seine künstlerische Ambition zu verwirklichen, sich dabei musikalisch auszudrücken, aber auf der anderen Seite erfolgreich sein zu wollen. Das ist die Mixtur, aus der sich eine Suppe ergibt, in der ich mich von Anfang an bewege. Es ist immer der gleiche Sprit, der meinen Motor zündet und es ist auch immer der gleiche Motor, der den schmalen Grat zwischen Kunst und kommerzieller Bestätigung geht. Dabei spielt Authentizität eine immens wichtige Rolle, ohne die geht es schlichtweg nicht. Wir haben auch schon 2010 Künstler-Biografien mit Begriffen wie Authentizität geschmückt. Nicht, weil es angesagt war, sondern weil es eben der Schlüssel ist. Es ist das, was ich bin und das, was ich mache. Gepaart mit meiner familiären Geschichte, mit einem Vater, der sich als Künstler als Stahlbildhauer, Musiker, Fotograf, Maler, Schriftsteller schon wieder zu sehr verwirklichen wollte und vielleicht nicht immer die verdiente Auswertung im Gegenzug hatte, habe ich teilweise Dinge, die mir in der Kindheit im Vergleich zu anderen gefehlt haben, auf die Kunst geschoben.

Du musstest also deine Sicht auf Kunst im Allgemeinen erst einmal ändern?

Definitiv. Und es hat eine Weile gedauert, bis ich den Weg gefunden habe, mich als Künstler sowohl auszudrücken, als auch erfolgreich zu sein sowie mich dabei wohlzufühlen. Ich glaube, so richtig passiert ist das 2000 und in den Jahren danach. Für viele fand zu diesem Zeitpunkt meine erste Karriere statt, in Wahrheit war es aber schon die zweite, wenn nicht sogar dritte, rechnet man meine Theaterkarriere mit ein. Erst 2002 oder 2003 habe ich die goldene Mitte aus Erfolg und dabei „Ich sein“ gefunden. Und diesen Weg habe ich seitdem konsequent verfolgt. Ich vertrete die feste Überzeugung, dass Kunst ohne Publikum inexistent ist. Daher gehören Kunst und Kommerz für mich unabdingbar zueinander. Natürlich wird es jetzt viele Leute geben, die entsetzt aufschreien. Dennoch sehe ich das so. Wenn ich meine Kunst nicht an den Mann bringen kann, habe ich meines Erachtens keine Kunst gemacht. Dabei geht es gar nicht darum, die größtmögliche Masse, sondern eine ausreichend große Masse anzusprechen, die es interessiert und mit der in meinem Fall eine Party oder ein Festival Spaß macht.

Authentizität ist dabei sicherlich unabdingbar. Dennoch gibt es ja es sehr viele Künstler*innen, die in ihrem Leben dieser zwar frönen, der Erfolg dennoch ausbleibt. Welche weiteren Faktoren sind bei dir entscheidend, deiner Meinung nach?

Ich glaube, zum einen das harmonische Verständnis. Thematiken wie „Wie entsteht eine Harmonie“ bzw. „Was muss wann passieren, damit die Haare am Arm hochgehen oder die Träne im Auge produziert wird“. Deshalb ist Hans Zimmer meines Erachtens da, wo er jetzt ist. Er ist sicherlich kein brillanter Pianist oder kann supergut ein Orchester arrangieren. Aber er weiß eben, an welcher Stelle der Ton kommt und an welcher Stelle er vor allem nicht kommt. Nicht, dass ich das alles kann, und der Vergleich mit ihm hinkt natürlich auf allen Beinen, don’t get me wrong. Aber darum geht es ja im Prinzip. Dinge zum richtigen Zeitpunkt zu machen oder eben sein zu lassen, was in meinen Augen die viel größere Kunst ist. Die richtige Bassline zum restlichen Firlefanz zu finden und das ganze Thema ordentlich zu performen, ich glaube, das spielt ebenfalls eine große Rolle. Für mich ist live spielen auch keine Arbeit und ich kann mich beim besten Willen an keine Show erinnern, die anstrengend oder nicht gut war.

Ebenfalls gut waren bislang Remixe zu deinen Original-Stücken. Innellea hat bereits „Boavista“ sehr erfolgreich neu interpretiert. Was hast du auf diesem Gebiet geplant?

Es wird rund 25 Remixe von befreundeten Künstler*innen geben, die im Februar als offizielles Remix-Album veröffentlicht werden. Ich freue mich wahnsinnig darüber, zumal die Liste an Künstlern, die zugesagt haben, der absolute Wahnsinn ist.

Veröffentlicht werden beide Werke auf deinem eigenen Label „Herzblut“.

Das Label gibt es an sich ja im Prinzip nicht mehr, zumal ich seit 2015 auch nicht mehr als DJ aktiv bin und ich einfach kein A&R bin. Die letzte Veröffentlichung stammt aus 2018 von meiner wundervollen Frau Luna. Da es mir aber wichtig war, eine möglichst unabhängige Plattform für diese beiden Releases zu haben, wird das Label dafür extra wieder aufgemacht und im Februar auch direkt wieder geschlossen. Wer weiß, wie lange …

Guter Punkt. Wirst du nochmal ein Album veröffentlichen?

Mein Studio in Lissabon wird gerade eingerichtet. Mal sehen, was passiert (lacht).

 

Aus dem FAZEmag 116/10.21
Text: Rafael Da Cruz
Credit: Kenton Thatcher
instagram.com/stephanbodzin