Szene-Special: Kulturhauptstadt Chemnitz – eine unterschätzte Stadt im Rampenlicht

Szene-Special: Kulturhauptstadt Chemnitz – eine unterschätzte Stadt im Rampenlicht

Chemnitz – eine Stadt, die selten laut auf sich aufmerksam macht, aber deren Subkultur umso beständiger wirkt. Einst Karl-Marx-Stadt, heute Kulturhauptstadt Europas 2025 – mit dieser Auszeichnung rückt ein Ort ins Zentrum der Aufmerksamkeit, der lange unter dem Radar lief. Fernab von Klischees über grauen Beton und industriellen Stillstand hat sich in den letzten Jahren ein stabiles Netzwerk aus Clubs, Kollektiven und Kulturakteur*innen gebildet, das nicht nur überregionale Relevanz erlangt hat, sondern auch zeigt, wie Wandel von innen funktionieren kann.

Die Club- und Veranstaltungsszene ist eng verwoben mit Orten wie dem Atomino und dem Transit, in denen Tanzflächen nicht nur Bewegungsräume, sondern auch Begegnungsräume sind. Parallel generieren Festivals und Konferenzen wie das KOSMOS Festival, die TENSIØN Konferenz oder die United Club Convention eine überregionale Aufmerksamkeit, die in Verbindung mit der Wahl zur Kulturhauptstadt neue Perspektiven eröffnet.
In unserem Szene-Special richten wir den Blick auf die Chemnitzer Kulturrealität zwischen DIY und Institution, zwischen Aufbruchstimmung und strukturellem Defizit. Wir haben mit ausgewählten Kultur- und Musikschaffenden – darunter Olaf Bender vom legendären Chemnitzer Label Raster – über das, was war, das, was ist, und das, was durch die Kulturhauptstadt vielleicht möglich wird, gesprochen. Ein Stadtporträt über Freiräume, Förderlücken und die Kraft kultureller Selbstermächtigung.

Foto: Christian Nopper

Christian Knaack – Chemnitz2025 / KOSMOS Festival

Über Christian Knaack:

Christian Knaack ist Leiter des Teams Generation der Kulturhauptstadt Europas Chemnitz 2025. Er baute den Transit Club mit auf und kuratiert beim KOSMOS Festival eine Bühne, auf der unter anderem ein Boiler-Room-Event und Gigs von Omar Souleyman, Perel und Boys Noize gehostet wurden. Im Team von Chemnitz2025 verantwortet er einen Bereich, der sich mit Projekten wie CREATE.U oder Tanzende Nachbarn an Jung und Alt richtet – stets mit dem Fokus auf Teilhabe, Bildung und Selbstwirksamkeit.

Christian, 2018 hast du dich entschieden, Wahl-Chemnitzer zu werden – die Stadt war damals negativ in den Schlagzeilen, heute ist Chemnitz Kulturhauptstadt Europas – wie ist es dazu gekommen?
Die meisten Leute haben bestimmt schon von Chemnitz gehört – einige erinnern sich vielleicht noch, dass hier zum Beispiel das Splash Festival angefangen hat. Bis 2018 war ich selbst für Festivals wie Tomorrowland oder Waking Life tätig und habe z.B. Stimming auf US-Tour begleitet – das war nur zwei Wochen, nachdem Chemnitz auf der Frontpage der New York Times war. Anlass war weniger die Kulturhauptstadtbewerbung, sondern rechtsextreme Ausschreitungen. Damals war ich gerade 22 und etwas überrascht, dass diese Bilder in den USA auf der Titelseite landen – knapp zweieinhalb Jahre später folgte in den USA am 6. Januar am Capitol in einer gewissen Art und Weise eine Steigerung dieser Eskalation im öffentlichen Raum.
Chemnitz stand 2018 international offensichtlich beispielhaft für eine Entwicklung, die weltweit mit Sorge wahrgenommen wurde. Trotz, manche Leute sagen sogar wegen, dieser Aufmerksamkeit hat unsere Stadt auch den Titel der Kulturhauptstadt Europas gewonnen und damit den Auftrag erhalten, mit künstlerischen Projekten daran zu experimentieren. Eine einmalige Chance!

Die Stadt hat weiterhin mit Rechtsextremismus und Konservatismus zu kämpfen. Was glaubst du, kann das Projekt Kulturhauptstadt dagegen bewirken?
Der Titel der Kulturhauptstadt Europas ist kein einzelnes Großprojekt, sondern ein Aufruf an die Öffentlichkeit, den Blick auf Chemnitz zu richten, und an die Stadtgesellschaft, diese Aufmerksamkeit zu nutzen. Der Titel und unser Programm sind ein lebendiges Bekenntnis zu einem offenen, europäischen Kulturverständnis.

Wie läuft so ein Bewerbungs- und Auswahlverfahren ab? Gib uns ein paar Einblicke in den Prozess.
Jedes Jahr wählt eine Fachjury der EU-Kommission zwei Städte mit vier Jahren Vorlauf zur Kulturhauptstadt Europas. Der gesamte Prozess dauert ein knappes Jahrzehnt und ist eng in die Kulturstrategie der Stadt eingebettet. Die letzten deutschen Kulturhauptstädte waren Essen/Ruhr (2010), Weimar (1999) und West-Berlin (1988). Allein aufgrund dieser Zeitabstände ist es ein glücklicher Zufall und Privileg, in der eigenen Stadt daran mitarbeiten zu dürfen.
Entscheidend war, dass Chemnitz und die Kulturhauptstadtregion mit 38 Kommunen durch die offene Thematisierung rechter Gewalt, die Reaktion der Zivilgesellschaft (#wirsindmehr) und Formate wie das KOSMOS Festival eine Dringlichkeit und einen Willen zur Veränderung vermitteln konnte. Statt nur große Namen einzukaufen, wurden verstärkt Menschen vor Ort eingebunden. Das schafft ein Zugehörigkeitsgefühl und die Chance, sich der Stadt neu anzunehmen – das hat die Jury überzeugt und wir hoffen, dass diese Aktivierung der Stadtgesellschaft auch nach außen strahlt.

Die Stadt und Region erhalten rund 90 Millionen Euro an Fördergeldern. Was wird mit dem Geld gemacht? Wo besteht der größte Investitionsbedarf?
Das ist für alle, die jemals in der Kulturbranche gearbeitet haben, eine Riesen-Zahl und wie immer ist das mit den Zahlen so eine Sache – ein großer Teil fließt in Infrastruktur. Den Titel selbst können vor Ort alle zum Anlass nehmen, um Projektförderungen, Stiftungskontakte und Entwicklungsmöglichkeiten zu erhalten, die in diesem Jahr auf Chemnitz fokussiert sind.
Investitionsbedarf gibt es an vielen Stellen, auch beim Jugendprogramm. Deshalb wurde ich mit einigen Kolleginnen ins Team geholt, Jugendprojekte zu entwickeln. Unsere Ressourcen fließen in generationenübergreifende Begegnung, Projekte der Zielgruppen und damit Schlüsselmomente vor Ort. Anders als bei früheren Kulturhauptstädten wie Essen bzw. dem Ruhrgebiet, wo Großbauten wie das Dortmunder U entwickelt wurden, setzen wir in Chemnitz auf dezentrale Investitionen. Etwa beim Skulpturenpfad „Purple Path“, der Chemnitz und die Region verbindet.

Was kann Chemnitz jungen, kreativen Menschen bieten?
Chemnitz bietet vor allem eines: Raum. Wohnraum ist bezahlbar, viele Orte sind noch nicht fertig gestaltet. Das ist für junge und kreative Menschen ein großer Vorteil. Man kann hier eigene Projekte starten, ohne sofort an wirtschaftliche Grenzen zu stoßen. Die Stadt entwickelt sich gerade durch das Programm kulturell stark weiter und es gibt immer mehr Leute, wie mich, die Chemnitz eine Chance geben.

Christian Knaack auf Instagram


Foto: Natalie Bleyl

Isabel Eißmann – Bandbüro Chemnitz / TENSIØN

Über Isabel Eißmann:

Während ihrer Studienzeit wurde Isabel Eißmann vom Charme der Chemnitzer Szene in den Bann gezogen – und entschied sich zu bleiben. Heute ist sie überregional als DJ TØSCHE unterwegs und bespielt als Resident-DJ unter anderem die TENSIØN – eine der wesentlichen Konferenzen für elektronische Musik im ostdeutschen Raum. Tätig ist sie außerdem für das Chemnitzer Bandbüro, das die lokale Musikszene und kreative Projekte fördert. Seit 2025 ist der Verein Hauptträger der TENSIØN.

Isabel, Chemnitz ist zur europäischen Kulturhauptstadt des Jahres gewählt worden. Mit Verlaub: Unwissende dürfte das auf den ersten Blick vielleicht überraschen. Womit hat sich die Stadt den Titel verdient?
Für mich ist die Chemnitzer Kulturszene echt – kreativ, widerstandsfähig und voller Leidenschaft. Die Auszeichnung als Kulturhauptstadt ist eine Chance, die Szene langfristig zu stärken und nachhaltige Strukturen aufzubauen – doch Chemnitz hat bereits jetzt viel zu bieten. Mit „C the Unseen“ zeigt die Stadt, was lange im Schatten stand: eine lebendige Kunst- und Clubszene, die zum Beispiel aus alten Industriebauten aufregende Kulturorte schafft.

Wie viel Auswahl bietet einem die Stadt, wenn man elektronisch feiern möchte?
Der bekannteste elektronische Club, das Transit, ist eine feste Anlaufstelle für regelmäßige Techno-Partys. Daneben gibt es immer wieder spannende elektronische Events und Off-Locations, die mit viel Herzblut organisiert werden. Wer elektronische Musik liebt, findet hier definitiv seinen Platz – vielleicht nicht jeden Abend, aber immer mit einem starken Gemeinschaftsgefühl.

Gibt es einen Sound, der die Szene prägt?
Die Chemnitzer Szene bewegt sich irgendwo zwischen hartem Techno, Trance und saftiger Bassmusik. Während das Transit als fester Anlaufpunkt für schnellen, druckvollen Techno und warme House-Vibes gilt, gibt es daneben eine kleine engagierte Underground-Szene.

Du bist für das Bandbüro Chemnitz tätig, das lokale Acts unterstützt. Erzähl uns etwas über deine Aufgaben.
Im Bandbüro Chemnitz dreht sich alles darum, die lokale Musikszene zu fördern. Ich helfe Musiker*innen bei der Vernetzung, berate zu Förderprogrammen, bin aktiv an Veranstaltungen und der Schaffung neuer Mitmach-Projekte beteiligt. Besonders spannend ist es, junge, aufstrebende Acts zu begleiten und ihnen eine Bühne zu bieten. Chemnitz hat eine tolle, kreative Musikszene – ein Teil davon zu sein und sie wachsen zu sehen, ist einfach großartig.

Was treibt die lokalen Talente an, die Stadt nicht zu verlassen? Berlin, Leipzig oder Dresden sind verlockend …
In Chemnitz fällt man schnell auf, weil die Szene nicht übersättigt ist. Hier gibt es viel Raum zur Entfaltung. Kreative können ihre Identität gestalten und ihre Visionen schnell umsetzen – mit kurzen Wegen und viel Freiheit. In einer kleineren Stadt wie dieser kann man sich schnell einen Namen machen und wird von der lokalen Community supportet.

Das Bandbüro hat auch die TENSION-Konferenz ins Leben gerufen. Sind solche regelmäßigen Events essenziell, um auch überregional auf sich aufmerksam zu machen?
Letztes Jahr war der Verein Kooperationspartner, dieses Jahr Hauptträger des Projekts. Gerade Städte, die um Anerkennung in der Szene ringen, profitieren vom Austausch und Netzwerk, um ihre kulturellen Besonderheiten sichtbar zu machen. Solche Veranstaltungen fördern neue Kooperationen und stärken die Kreativszene nachhaltig.

Was fehlt der Szene deiner Meinung nach am meisten?
Meiner Meinung nach fehlt der Szene in Chemnitz vor allem ein überregionales Selbstbewusstsein. Es gibt viel Potenzial, aber oft fehlt der nötige Fokus, um sich auch außerhalb der Stadt als wichtige kulturelle Kraft zu positionieren. Zudem braucht die Szene mehr Raum für langfristige, nachhaltige Projekte. Es fehlen stabile Plattformen, die kontinuierliche Unterstützung bieten – zum Beispiel durch regelmäßige Förderungen.

Website des Bandbüro Chemnitz
Isabel Eißmann auf Instagram


Credits Portrait: ENZO

Emily König – Transit Club / Signal Transmitter

Über Emily König:

Aufgewachsen in Chemnitz, hat sich Emily König nach Stationen in Dresden und Berlin dazu entschieden, in ihre Heimat zurückzukehren. Als em.ævi ist die 29-Jährige seit fünf Jahren als Resident-DJ im Transit Club tätig, wo sie den interdisziplinären Sound der Venue nachhaltig mitgestaltet. 2022 hat sie das Booking im Kultur- und Communitymanagement des Clubs übernommen.

Ähnlich wie das Atomino ist auch der Transit Club kein reiner Techno-Club. Ist das bezeichnend für die Chemnitzer Subkultur, dass sich verschiedene Bewegungen den gleichen Space teilen?
Ja, das ist fast schon ein Markenzeichen der Stadt. In Chemnitz sind Räume selten exklusiv, aber genau daraus entsteht etwas Besonderes: Offenheit, Vielschichtigkeit, Transparenz und Kollaboration. Theorie, Kunst und Club – das fließt ineinander. In einer Stadt mit begrenzten Mitteln, aber großem Gestaltungswillen, ist das fast schon überlebensnotwendig.
Unsere Plattform soll vielfältige Ausdrucksformen ermöglichen: musikalisch, diskursiv, performativ. Das ist manchmal herausfordernd, aber essenziell – gerade wo verschiedene Szenen aufeinandertreffen. Das hat weniger mit Beliebigkeit zu tun als mit einem bewussten Verständnis von Raum als Plattform.

Was kannst du uns zur elektronischen bzw. technoiden Facette des Clubs erzählen?
Der Sound, der bei uns gespielt und produziert wird, ist geprägt von Hingabe, Tiefe, Textur, Haltung und Offenheit. Wir interessieren uns für elektronische Musik, die mehr will, als nur funktionieren. Sound, der nicht nur den Floor erfüllt, sondern auch eine innere Bewegung erzeugt. Weniger der klassische 4/4-Floor-Banger, sondern eher eine explorative Ästhetik – technoid, aber nicht festgelegt. Zwischen Drone und Dub, zwischen hypnotischem Techno, Breaks, Ambient oder auch experimentellen Live-Performances. Beispielhafte Formate sind „NOISE“, einige Clubnächte und jüngst „signal.transmitter“ und „ab Ovo“.

Die Stadt hat diverse renommierte Artists und Labels hervorgebracht. Raster-Noton beispielsweise. Inwieweit prägen sie die Szene?
Heute Raster Media ist einer der klanglich und visuell prägendsten Einflüsse, die von Chemnitz ausgingen – bis heute. Olaf Bender zeigt aktuell eine Ausstellung im Wirkbau. Konzept und Klang, Präzision und Emotion – das ist charakteristisch. Vielleicht sind es die Frequenzen dieses Ortes – industriell, minimalistisch, rhythmisch, rau – die solche Ausdrucksformen hervorbringen.
Chemnitz ist kein Wohlfühlort, sondern ein Ort mit Struktur und Widerstand. Und genau daraus entsteht Kunst. Heute setzt sich das fort: neue Labels, Crews, Räume, die Geschichte weiterführen und neu interpretieren. Letztes Wochenende eröffnete „momentum“, ein Projektraum von Bela Bender und ENZO, in der Innenstadt. Das Erbe wirkt – nicht nostalgisch, sondern als Resonanzkörper.

Chemnitz ist zur Kulturhauptstadt Europas gewählt worden. Welche Verantwortung geht damit einher?
Die Ausschreitungen von 2018 haben gezeigt, wie fragil öffentlicher Raum ist. Deshalb braucht es kulturelle Orte, die reale Begegnung ermöglichen. Die Clubszene schafft solche Räume – für Diversität, Selbstentfaltung und Diskurs.
KOSMOS Chemnitz ist ein gutes Beispiel dafür: Musik, Haltung und Begegnung fließen zusammen. Vom 13. bis 15. Juni zeigt sich die Stadt vielstimmig – wer verstehen will, was diese Stadt ausmacht – kommt dahin. Auch die United Club Convention bringt Szenen zusammen, fördert Nachwuchs, schafft Räume. Begegnung ist das Zentrum unserer Arbeit. Damit das wirkt, braucht es Struktur und Förderung. Die Kulturhauptstadt muss die Szene nicht neu erfinden – nur ernst nehmen.

Transit auf Instagram
Emily König auf Instagram


Foto: Béla Bender

Olaf Bender – Raster Media / Byetone

Über Olaf Bender:

Olaf Bender, geboren 1968 in Karl-Marx-Stadt (heute: Chemnitz), ist ein international renommierter Multimedia-Artist. 1996 gründete er mit Frank Bretschneider die unabhängige Künstlerplattform Rastermusic, die 1999 mit Carsten Nicolais Noton zu Raster-Noton fusionierte und seit 2017 schließlich wieder als Solo-Netzwerk agiert (Raster Media). Unter seinem Musiker-Alias Byetone formte Bender Raster zu einem weltweit angesehenen Label im Bereich der experimentellen elektronischen Musik. An Chemnitz2025 ist Raster Media mit dem Projekt „raster.soundtrack europe 20_25“ beteiligt.

Olaf, als Byetone bist du gerade in Japan on Tour. Wenn du auf deinen Reisen an Chemnitz denkst, was hast du dann vor Augen?
Vor allem einen Ort, der sich noch finden muss.

Welchen Einfluss hat bzw. hatte Raster(-Noton) auf die Entwicklung der Sub- und Musikkultur in Chemnitz?
Als wir das Label gründeten, waren wir Teil der Chemnitzer/Karl-Marx-Städter Subkultur. AG Geige war sicher wichtig für die Stadt, da kommen wir ja her. Wir hatten ein Studio, wo auch Aufnahmen anderer lokaler Acts entstanden. Wir waren in Clubs aktiv und haben über die Jahre Veranstaltungen an diversen Orten gemacht. Elektronische Musik hat in Chemnitz lange gebraucht und ist bis heute eher eine kleine Szene. Die Einflüsse in Richtung Chemnitz halte ich für gering – echtes Interesse gab es kaum, abgesehen von wenigen Musikliebhaber*innen. Heute gibt es mehr DJ-Kultur und Musik mit Computern, das versteht man inzwischen, betrifft aber eher eine jüngere Generation.

Sollte man also eher fragen, welchen Einfluss die Stadt auf das Label hatte?
Ja!
Chemnitz ist eine eher hässliche Stadt mit wenigen Entertainment-Faktoren. Ich selbst habe das nie als negativ empfunden. Wir fanden alle, dass dies auch Vorteile hat, weil man dadurch hier ganz gut arbeiten kann, sich auf sein eigenes Ding fokussieren kann. Dann gibt es hier viel Industriekultur. Wir haben mal ein Signal-Album gemacht, auf dem die Tracks die Namen von verschwundenen Betrieben, Kombinaten oder Fabriken aus Chemnitz trugen. Es gibt auch immer noch viel Handwerk und kleine Betriebe hier, mit denen man gut zusammenarbeiten kann – das ist ein Grund, warum wir immer hiergeblieben sind – Produktion.

Chemnitz ist Kulturhauptstadt 2025. Welche (positiven) Konsequenzen könnte das haben?
Zuerst freut es mich für die Stadt, einmal die Chance zu haben, ein Spotlight zu bekommen. Chemnitz ist wenig mit Geschichte belastet – anders als etwa Dresden oder Erzgebirgsstädte. Man könnte sich hier neu erfinden, experimentieren, eine innovative Alternative formulieren. Es gibt viele freie Räume, bezahlbaren Wohnraum. Diese Freiräume, verbunden mit mehr Kultur, könnten Chemnitz für eine junge Generation attraktiv machen.

Raster war bzw. ist selbst Teil des Projekts in Form des „raster. soundtrack europe 20—25“. Erzähl uns etwas über den Open Call, das Resultat und die Rezeption.
Unser raster.-Open Call will Chemnitz in eine europäische Dimension rücken. Über die Jahre haben wir uns einen exzellenten internationalen Ruf erarbeitet, den wir nun nach Chemnitz bringen wollen. Ziel ist es, einen elektronischen Soundtrack für das Europa 2025 zu kuratieren. Wir wollen aktuellen Musiker*innen aus Chemnitz und Europa eine Bühne bieten.
Aus allen Einsendungen hat eine Jury 20 Gewinner*innen in fünf Kategorien gewählt. Es erscheinen nun fünf CDs, die wir in Chemnitz und europaweit verbreiten – um elektronische Musik hierherzubringen und den Namen Chemnitz bekannter zu machen. Vielleicht ist das für manche ein Anlass, die Stadt kennenzulernen.

Welche Orte und Veranstaltungen im Kontext von Club-, Tanz- und experimenteller Musik sind deiner Meinung nach essenziell für Chemnitz?
Transit und Spinnerei haben viel für die Club- und DJ-Kultur in Chemnitz getan. Das Atomino ist auch eine wichtige Adresse, aber eher im Crossover-Bereich. Auch im Museum Gunzenhauser soll es ab September Konzerte mit Musiker*innen des Open Calls geben. Und dann ist da natürlich das Kosmos Festival – dort trifft sich wirklich jede*r. Auch Weltecho und Balboa sind erwähnenswerte Orte. Daneben gibt es immer wieder temporäre Pop-up-Formate in der Stadt.

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Foto Atomino: Ernesto Uhlmann

Anja Jurleit – Atomino / Lokführer Andi

Über Anja Jurleit:

Nach ihrem Grafikdesign-Studium in Dresden zog es Anja Jurleit 2019 nach Chemnitz, wo sie sich nach einem DJ-Workshop im Atomino als Resident des traditionsreichen Clubs etablieren konnte. Ihr spielerisches Pseudonym Lokführer Andi steht dabei parabelhaft für die in vielen Bereichen multidisziplinäre Philosophie der Venue, die Partynächte mit Formaten wie Bingo, Quiz und anderen gemeinschaftlichen Aktivitäten kombiniert und ein breit gefächertes musikalisches Genre-Potpourri bietet.

Anja, das Atomino ist ein Club mit vielen Facetten. Magst du uns ein wenig über die Besonderheiten erzählen?
Was mich beim Atomino sofort fasziniert hat, war die besondere Herangehensweise an Club- und Partykultur. Veranstaltungen gehen hier oft über reine Beschallung hinaus. Gäste können Abende aktiv mitgestalten, etwa durch Votings bei Wettbewerbsformaten, die den weiteren Verlauf beeinflussen. Es steckt viel Liebe im Detail – von Bühnenbildern über Dekoration bis zu moderierten Abenden mit selbstgestalteten Trophäen. Der Club denkt ganzheitlich und bietet auch Formate wie Bingo, Quiz oder Lesungen. Und nicht zuletzt: das starke Gemeinschaftsgefühl und die generationsübergreifende Zusammenarbeit im Verein. Das ist richtig schön.

Ähnlich divers liest sich euer musikalisches Programm. Gib uns ein paar Insights.
Das Atomino veranstaltet Partys vieler Genres. Von elektronischer Musik über Dancehall und Afrobeats, bis hin zu Indie, Pop und Hip-Hop ist alles dabei. Was ich am Atomino ebenfalls sehr schätze, ist, dass hier viele Genres nebeneinander existieren können. Hier verbinden Partyformate sogar des Öfteren mal Genres miteinander. Dann findet beispielsweise eine 360-Grad-Party statt, bei der drei DJs an drei verschiedenen Setups im Kreis stehen und sich im 20-Minuten-Takt abwechseln. Und dann wird der Club über den Abend hinweg eben mit Pop, Techno und Hip-Hop bespielt. Dann ist für alle etwas dabei und man erhält vielleicht auch Einblicke in Welten, in die man sich vorher noch nicht begeben hat.

Ein bekanntes Portal attestiert dem Atomino „Absurdität, Übermut, Ekstase und Selbstironie“. Das klingt auch nach einem Kontrast zu Leipzig oder Berlin. Ist Chemnitz lockerer als seine großen Nachbarn?
Ich glaube, kaum jemand würde Chemnitz in erster Linie eine „Lockerheit“ zuschreiben, haha. Chemnitz als Stadt ist absolut nicht locker. Ich habe aber das Gefühl, dass, wenn man sich bewusst dazu entscheidet, in einer Stadt wie Chemnitz zu leben und dazu auch noch in der Kulturlandschaft aktiv zu sein, dann passiert es fast automatisch, dass man alles mit einem „grain of salt“ betrachtet, wie man im Englischen so schön sagt. Dann ist es wahrscheinlich gerade die fehlende Lockerheit, aus der dann eine solche Selbstironie resultiert. Wir wissen alle um die Umstände in der Stadt und versuchen, das Beste daraus zu machen.

Der Club ist diverse Male innerhalb der Stadt umgezogen. Wie wir alle wissen, geschieht dies meist nicht aus freien Stücken …
Ich glaube, nicht alle Menschen hier sind der Meinung, dass Clubkultur und vielleicht sogar generell Subkultur extrem wichtig für ein Stadtbild sind. Ich meine, Orte und Gemeinschaften wie das Atomino waren für mich der Grund, überhaupt fest nach Chemnitz zu ziehen. Solche Orte sind essenziell für junge Menschen, um sich kreativ zu entfalten, um einen Ort zu haben, an dem man Gleichgesinnte findet, um Kultur zu schaffen und zu genießen, um zu lernen und über sich hinauszuwachsen. Es wird manchmal das Gefühl in einem erweckt, dass nicht allen bewusst ist, dass ein Club oft viel mehr ist als Konsum und Rausch.

Chemnitz braucht mehr …
Neugierde. Ich glaube, Chemnitz würde es gut tun, sich hier und da auf Neues einzulassen und vielleicht auch einfach mal ins kalte Wasser zu springen und Dinge auszuprobieren.

… und weniger?
Verweilen in der Komfortzone. Die Antwort schließt sich an die der vorherigen Frage an. Chemnitz ist oft sehr gemütlich, und öfter mal über den eigenen Tellerrand zu schauen, schadet bestimmt nicht.

Club Atomino auf Instagram
Anja Jurleit auf Instagram


Aus dem FAZEmag 159/05.2025
Text: M.T.
Credits: Christian Nopper, Natalie Bleyl, ENZO, Béla Bender, Ernesto Uhlmann
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