Vince Clarke – Ein Mann und sein Rack

Foto: Eugene Richards

Für sein erstes Soloalbum überhaupt, „Songs of Silence“, stellte Depeche-Mitbegründer Vince Clarke exakt zwei Regeln auf: Zum einen sollten die Klänge des Albums ausschließlich von seinem Eurorack kommen, zum anderen sollte jeder Track einzig und allein auf einer singulären Note basieren. Die Frage, warum man sich diese Form der Selbstlimitierung überhaupt auferlegen sollte, wird bereits beim ersten Reinhören ins Album im Keim erstickt. Clarkes penibles Regelwerk hat ein monumentales Ambient-Prachtwerk beschert, ein multidimensionales Drone-Kraftpaket, das Grenzen sprengt und neue Perspektiven eröffnet.

„Niemand in meinem Haushalt interessiert sich sonderlich dafür, was ich im Studio treibe. Sogar die Katze ist nach etwa einer Stunde Drones weggegangen“, konstatiert Clarke. Tja, das tut uns in erster Linie leid für die Katze, denn was der Stubentiger hier verpasst hat, ist die Entstehung eines der besten Ambient-Alben der letzten Jahre. Hands down. Auch wenn man Clarke schon immer mit elektronischer Musik assoziierte, sei es durch Depeche Mode, dem Minimal-Techno-Projekt VCMG (zusammen mit Martin Gore), oder der gemeinsamen Kollaboration mit Jean-Michel Jarre für dessen Album „Electronica“, so fällt Clarkes Oeuvre am Ende des Tages wohl immer noch in die Kategorie der Popmusik. Zumindest bis jetzt. „Songs of Silence“ ist ein Statement. Ein Statement, das zeigt, dass sich der 63-Jährige nicht auf seinem Pop-Erbe ausruhen will. Stattdessen möchte er nun neue elektronische Perspektiven eröffnen – mit unendlichen Sequencer-Mustern, anschwellenden Gitarrenwänden und gewaltigen Drone-Sounds, die er am Eurorack komponierte. „Die unendlichen Klangschattierungen, die man mit dem kleinsten Dreh an einem Regler erzeugen kann, faszinieren mich immer wieder. Alle Tracks haben ein Gefühl von Traurigkeit, von Dingen, die schlecht werden, von Dingen, die zerfallen“, so der Londoner über den Spirit des Albums. Die Idee, die Stimmung und auch der Titel von „Songs of Silence“ entstanden während des Corona-Lockdowns. Das macht Sinn, denn wir alle wissen schließlich, was die soziale Abschottung mit unseren Köpfen anstellte. Wie die meisten Künstler*innen suchte sich auch Vince Clarke ein Projekt, um genau diese Gefühlswelt zum Ausdruck zu bringen. „Ich wollte Sounds und Soundskulpturen mit dem Eurorack erzeugen. Das war damals noch relativ neu für mich und somit eine passende Gelegenheit“, erklärt der 63-Jährige.

Aus dem Lernwillen und künstlerischem Entfaltungsdrang entwickelte sich bei Clarke schnell eine Faszination für das Eurorack-Modularsystem, das eine Kombination von Synthesizern verschiedener Hersteller ermöglicht und seinen Ursprung in Deutschland findet. Das Format wurde 1996 von Doepfer Musikelektronik präsentiert und wird seither von zahlreichen Firmen adaptiert. „Das ist ein bisschen so, als hätte man ein Auto, bei dem die Reifen von VW stammen, der Motor von Porsche kommt und die Karosserie von Ford bezogen wird – und alle Komponenten passen perfekt zusammen.“ Würde man bei „Songs of Silence“ von einem „Motor“ sprechen, dann würde dieser mutmaßlich von Moog stammen. Die pulsierenden, dröhnenden Drone-Sounds, die Clarke mit den Synthesizern des US-Herstellers im Studio schuf, sind allgegenwärtig auf dem elektrisierenden 10-Track-Album und bilden die Grundlage für die ergänzenden Elemente, zu denen neben funkelnden Melodien auch sägende Celli-Einheiten des Komponisten Reed Harry und großartige, wortlose Operngesänge von Caroline Joy zählen. Als Teil von Erasure, Yazoo und Depeche Mode hat Clarke die Musiklandschaft nachhaltig geprägt. Nun ist es Zeit für eine neue Ära – und „Songs of Silence“ markiert den ersten großen Schritt.

„Songs of Silence“ ist am 17. November via Mute erschienen.

Aus dem FAZEmag 142/12.2023
Text: M.T.
Foto: Eugene Richards
www.vinceclarkemusic.com