Anfisa Letyago – die Magie des Origami

Anfisa Letyago – die Magie des Origami

Ihre musikalische Reise begann im italienischen Neapel. Heute gehört Anfisa Letyago zu den gehyptesten Künstlerinnen im elektronischen Kosmos. An der Küste Kampaniens lebt sie heute immer noch. Im Interview gibt sie nicht nur einen tiefen Einblick in ihre Geschichte und ihr künstlerisches Schaffen, sondern schildert auch, wie die Kraft des Meeres sie, ihre Musik und ihre Kreativität maßgeblich beeinflusst. Ihre neue Single „Origami“ vereint sowohl Einflüsse aus Trance, Breakbeat und Techno und integriert sich perfekt in ihr neues Live-Projekt „Partenope“, bei dem sie mit AI-Künstlerin Giusy Amoroso kollaboriert und das auf einem alten griechischen Mythos basiert. Doch auch ihre Zusammenarbeit mit ikonischen Acts wie Moby, Carl Cox und der Swedish House Mafia sorgten dafür, dass sie dieser Tage in die Riege der ganz Großen aufsteigt. Los geht’s.

Anfisa, lass uns ganz von vorne anfangen. In der Nähe des Meeres aufgewachsen zu sein und jetzt an der italienischen Küste zu leben, scheint eine wichtige Rolle in deinem Leben und deiner Kunst zu spielen. Wie beeinflusst diese Umgebung deine Musik und Kreativität?

Ich liebe mein Haus und den Ort, an dem ich lebe. Ich ziehe viel Energie und Inspiration aus meiner Umgebung, vor allem aus der natürlichen Kraft und Dynamik des Meeres. Wenn ich auf meinem Balkon sitze und mich auf die Frequenzen der Wellen einstelle, hilft mir das, den Kopf frei zu bekommen und Platz für neue Ideen und kreative Strömungen zu schaffen. Die Natur und die Musik sind für mich sehr ähnlich; beide geben mir das Gefühl, lebendig zu sein und vermitteln mir tiefe sinnliche Erfahrungen.

Deine Reise in die elektronische Musik begann in der pulsierenden Clubszene von Neapel. Wie haben die Stadt und ihre Kultur deinen Musikstil und deine Karriere geprägt?

Die Clubszene von Neapel hat einen großen Einfluss auf mich und meine Karriere gehabt. Ich begann zunächst als Clubgängerin und wurde später zum Disc-Selektor. Ich ging in alle Clubs der Stadt, um Shows von lokalen und internationalen Künstler*innen zu besuchen, die hier auftraten. Die Begegnung mit solch großen Künstlern in einem sehr frühen Stadium meiner Karriere war von unschätzbarem Wert und gab mir eine klare Vorstellung von den Zielen, die ich als DJ erreichen wollte.

Du hast eine beeindruckende Liste von Shows bei großen Festivals und in Clubs. Gibt es einen bestimmten Gig, der für dich ein Highlight in deiner Karriere ist?

Jeder Auftritt bringt seine eigenen Emotionen und Erinnerungen mit sich, die mich aus verschiedenen Perspektiven zufriedenstellen. Nur einen auszuwählen, wäre zu schwer. Aber ich kann euch einige Länder nennen, in denen ich gerne spiele, z.B. Belgien, die Niederlande, die USA und Großbritannien, um nur ein paar zu nennen.

Wie hat deine Begegnung mit Carl Cox deine Karriere geprägt und welchen Einfluss hatte seine Unterstützung auf deinen Weg in der elektronischen Musikszene?

Carl ist ein guter Freund und ich schätze ihn nicht nur beruflich, sondern auch persönlich. Er ist extrem nett zu allen und hat ein großes Herz. Er hat meine Musik am Anfang meiner Karriere als Produzentin sehr unterstützt und mir die Möglichkeit gegeben, einige meiner ersten Tracks auf seinem Label Intec Digital zu veröffentlichen. Dadurch wurde ich in kurzer Zeit sehr bekannt, und ich werde ihm immer dankbar dafür sein.


Deine neue Single „Origami“ verbindet Trance, Breakbeat und Techno mit einer poppigen Gesangseinlage. Kannst du uns mehr über die Inspiration zu diesem Song erzählen und wie die Origami-Kunst ihn beeinflusst hat?

Die Kunst des Origami hat in der orientalischen Kultur eine tiefe symbolische Bedeutung. Jede Falte spielt eine genaue Rolle für das Endergebnis, und wenn man einen Schritt auslässt, verändert dies das Endergebnis völlig. Der Prozess ist ein ständiger Wandel, bei dem einfaches Papier in etwas Schönes und Raffiniertes verwandelt wird. Dieses Konzept spiegelt meine Vision und die Art und Weise wider, wie ich meine Musik produziere – und das ist es, was ich mit diesem Song vermitteln möchte.

Du hast erwähnt, dass es in „Origami“ um Energie und Transformation geht. Wie finden sich diese Themen in deiner Musik und deiner künstlerischen Vision?

Sowohl „Feelin’“ als auch „Origami“ bringen eine Menge Energie und Transformation mit sich, da sie Teil eines neuen Projekts in meiner Karriere als Produzent und DJ sind. Meine Musik und mein Live-Erlebnis entwickeln sich weiter und ich durchlaufe einen Transformationsprozess, der jeden Aspekt meiner Karriere berührt. Jede kleine Veränderung ist eine spannende Herausforderung für mich. Die Energie, die du in diesen beiden neuen Singles spüren kannst, ist das Adrenalin, das jedes Mal durch meinen Körper fließt, wenn ich in meiner Karriere einen Schritt weiter komme. Könnt ihr es spüren?

Deine neue Live-Show „Partenope“ basiert auf einem alten griechischen Mythos und beinhaltet eine Zusammenarbeit mit der AI-Künstlerin Giusy Amoroso. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit und wie sah der kreative Prozess aus?

Die Geschichte meiner Stadt hat mich schon immer fasziniert. Ich habe mein Label NSDA nach Nisida benannt, einer Insel bei Neapel. Vor einiger Zeit war ich auf der Suche nach neuen Inspirationen und entdeckte die Geschichte von „Partenope“. Es ist ein griechischer Mythos über eine Meerjungfrau, die an die Küste von Neapel kam und starb und zum Symbol der Stadt wurde. Die Vorstellung, dass eine Frau das Symbol für etwas so Bedeutendes wie Neapel ist, hat mich verzaubert. Diese Geschichte hat mich so sehr berührt, dass ich spürte, dass ich sie in meine künstlerische Reise einbauen sollte.
Wenn man so ein großes Projekt plant, muss man mit anderen Künstler*innen zusammenarbeiten, die dieselbe Fantasie in die Realität umsetzen können. So lernte ich Giusy Amoroso kennen, eine bildende Künstlerin, die ursprünglich aus Neapel stammt, aber in Berlin lebt, und der Zauber begann. Als ich ihre Kreationen sah, wusste ich, dass sie die perfekte Künstlerin ist, um mit ihr zu arbeiten. In der ersten Phase des kreativen Prozesses fuhr ich nach Berlin, um einen 3D-Scan meines Gesichts und meines Körpers anfertigen zu lassen und die Hauptfigur der Show zu kreieren. Es war sehr lustig und interessant zu sehen, wie diese Welt zum Leben erwachte. Woche für Woche.

Die Show wird beim Red Valley Festival auf Sardinien Premiere feiern. Was können die Fans von diesem hochmodernen audiovisuellen Erlebnis erwarten?

Ein audiovisuelles Erlebnis zu realisieren, ist ein ehrgeiziges Projekt. Ich habe sehr hart gearbeitet, um sicherzustellen, dass alles meiner Vision für diese Show entspricht, und ich kann es kaum erwarten, sie live zu sehen, wahrscheinlich genauso sehr wie meine Fans. Als ich mit der Arbeit daran begann, wollte ich ein umfassenderes Erlebnis schaffen, das nicht nur die Musik, sondern auch die visuellen Eindrücke miteinbezieht, um mehr Sinne des Publikums anzusprechen und ihm das Gefühl zu geben, vollständig in meine Welt einzutauchen.

Für die Show wurdest du per 3D-Scan, du hast es eben angesprochen, in eine Meerjungfrau verwandelt. Wie war es, dich selbst als dieses Fabelwesen zu sehen, und wie fügt sich das in die Gesamthandlung von „Partenope“ ein?

Nun, ich bin natürlich die Hauptfigur meiner eigenen Geschichte, und dieses Projekt zielt darauf ab, in direkteren Kontakt mit den Menschen zu treten, die sie erleben, und sie in meine Welt eintauchen zu lassen, also dachte ich, ich sollte auch direkt in den visuellen Teil einbezogen werden. Ich war schon immer von mythischen und mystischen Kreaturen fasziniert, die ein bisschen hässlich, aber gleichzeitig niedlich sind und Neugierde wecken; da lag es nahe, mich in die Figur der Partenope zu verwandeln (lacht).

Du hast angefangen, deine eigenen Vocals in deine Musik einzubauen. Wie hat sich dadurch deine Herangehensweise an die Produktion von Tracks verändert und welche neuen Dimensionen bringt das deiner Meinung nach in deine Arbeit?

Als ich anfing, meine Vocals in meine Musik zu integrieren, hat sich die Herangehensweise komplett verändert. Als ich merkte, wie sehr ich das Hörerlebnis durch meine Stimme personalisieren konnte, begann ich, sie als eines der Hauptinstrumente einzusetzen. In meinen zukünftigen Projekten werde ich weiter mit meiner Stimme experimentieren und mich bemühen, bei jeder Produktion das perfekte Zusammenspiel zu finden. Das verleiht meinen Tracks eine persönliche Note, die sie zu etwas Einzigartigem macht.

Dein Label NSDA ist zu einer Plattform für unkonventionelle Sounds geworden. Was war die Motivation, dein eigenes Label zu gründen, und wie soll es sich in Zukunft entwickeln?

Ich habe NSDA gegründet, als ich das Gefühl hatte, dass meine Produktionen nicht zu einem bestehenden Label passen. Ich wollte die Freiheit haben, Musik ohne Zwänge zu produzieren, ohne mir Gedanken darüber zu machen, ob ich den Erwartungen der verschiedenen Labels in der Szene entspreche. Die gleiche Freiheit biete ich auch den Künstler*innen. Ich ermutige sie dazu, über den Tellerrand hinauszuschauen und ihrer Kreativität keine Grenzen zu setzen. In Zukunft hoffe ich, das erste NSDA-Showcase zu organisieren, zu dem ich die Künstler*innen einladen werde, die Teil dieser Familie sind, damit die Leute die Welt von NSDA auch live erleben können.

Was können die Fans von dieser nächsten Phase deiner künstlerischen Reise erwarten, wenn ein Album in Planung ist? Gibt es Themen oder Stile, die du besonders gerne erkunden möchtest?

Die ersten beiden Singles, die ich über Sony Music/noted. veröffentlicht habe, unterscheiden sich schon ziemlich von meiner bisherigen Arbeit. Ich gebe mir selbst die Möglichkeit zu experimentieren, ohne meine Wurzeln und Erfahrungen zu vergessen. Kreative Freiheit ist heutzutage selten, aber sie ist immer noch etwas, das für mich sehr wichtig ist. Es ist schwer zu erklären, was man von diesem Album erwarten kann, denn es ist ein sich ständig weiterentwickelnder Prozess. Ihr müsst also geduldig sein und mitverfolgen, wie ich die nächsten Schritte auf dieser Reise mache. Man kann sich auf jeden Fall auf einige spannende neue Kollaborationen freuen. Ich bin wirklich gespannt auf das, was noch kommt.

Du hast erwähnt, dass das wichtigste Instrument, das wir haben, unsere Stimme sei. Kannst du uns mehr darüber erzählen, wie du die Kraft deiner Stimme und ihre Rolle in deiner Musik entdeckt hast?

Es ist schon ein paar Jahre her, dass ich mit meiner Stimme experimentiert und sie in meinen Produktionen eingesetzt habe. Es fing damit an, dass ich Wörter und dann ganze Sätze flüsterte und dabei zwischen Italienisch und Englisch wechselte. Die Ergebnisse haben mir immer gefallen. Nach und nach habe ich meine Stimme immer mehr in meiner Musik eingesetzt, bis ich mich selbst davon überzeugt habe zu singen. Weißt du, Synthies und Sounds sind für jeden zugänglich, aber unsere Stimme ist einzigartig; sie ist eine unserer stärksten Eigenschaften, die uns ausmacht. Wenn ich meinen Tracks meine Stimme hinzufüge, wird alles persönlicher und erkennbarer, und das motiviert mich, ihr Potenzial bei jedem Projekt weiter zu erforschen.

Wie können wir uns deinen Arbeitsablauf im Studio vorstellen?

Kaffee, ein paar vergangene Perlen anhören, um sich inspirieren zu lassen, das Meer genießen, noch ein Kaffee, mit ein paar Drums und Sounds spielen, meine Stimme hinzufügen, ein paar Effekte auswählen, Leo, meinen Kater, knuddeln, noch ein Kaffee. Das beschreibt es ziemlich gut, denke ich (lacht).

Was sind deine persönlichen Favoriten, sowohl im Soft- als auch im Hardwarebereich?

Ich benutze Ableton Live – das ist meine Lieblingssoftware, weil ich damit direkt an meine Produktionen herangehen und Ideen schnell in Musik umsetzen kann. Ich verwende gerne Plug-ins, um meinen Gesang zu manipulieren und verschiedene Effekte zu erzielen, z.B. eine kindliche Stimme. Synthesizer sind meine bevorzugten Instrumente, um eine hypnotische und verträumte Basis zu schaffen. Viel mehr kann ich nicht sagen – schließlich verrät ein Magier seine Tricks nicht.

Du bist in den nächsten Wochen auf großen Festivals, wie Awakenings und Tomorrowland, und in legendären Clubs wie beispielsweise dem HÏ Ibiza. Worauf freust du dich dabei am meisten?

Für mich geht es normalerweise nicht um den Namen des Festivals oder des Clubs, sondern um die Crowd; diese Venues haben immer erstaunliche Crowds. Natürlich ist es immer sehr aufregend für mich, bei Awakenings oder Tomorrowland zu spielen, ebenso wie im Hï Ibiza, dem Club Nr. 1 der Welt in diesem Jahr. Auch wenn manche Leute denken, dass man nach Tausenden von Shows nicht mehr nervös ist, kann ich versichern, dass das Adrenalin uns alle immer wieder einholt. Zum Glück! Deshalb machen wir ja diesen Job.

Wie bereitest du dich auf deine Live-Shows vor, vor allem mit Blick auf die zusätzliche Komplexität deiner neuen audiovisuellen Elemente?

Um meine DJ-Sets vorzubereiten, höre ich mir viel Musik an und recherchiere intensiv nach neuen Tracks. Was mir bei der Vorbereitung eines Sets am meisten Spaß macht, ist die Einbeziehung der Tracks, die ich von jungen und aufstrebenden Künstler*innen erhalte, die mir ihre Musik schicken. Das ist sehr erfrischend und manchmal sogar herausfordernd, denn manche Tracks scheinen nicht für ein DJ-Set geeignet zu sein. Ich liebe es, mich mit ihnen auseinanderzusetzen, um einen Platz in meiner Auswahl zu finden. Mein Ziel ist es, meine Shows einzigartig und niemals langweilig zu machen. Neben meinen Visuals und der Gründung des A/V-Projekts „Partenope“ arbeite ich intensiv am Sounddesign meiner Show. Ich verbringe jeden Tag Stunden im Studio, um sicherzustellen, dass die verschiedenen Elemente der Show gut miteinander verbunden sind und zueinander passen.

Auf Instagram gibst du deinen Fans einen Einblick in dein Leben, von Mode über Musik bis hin zu persönlichen Momenten. Wie wichtig ist es für dich, mit deinem Publikum auf einer persönlichen Ebene über die sozialen Medien in Kontakt zu treten?

Sehr, sehr wichtig! Meine Fans sind die Leute, die mich und mein Label unterstützen, zu meinen Shows kommen und meine Musik hören. Der direkte Kontakt mit ihnen über die sozialen Medien ist für mich sehr wichtig, damit sie sich als Teil meiner Reise fühlen. Viele Menschen fühlen sich den Künstler*innen, die sie lieben, nahe; sie fühlen sich unterstützt und sehen in manchen Künstlern einen Wegweiser. Das ist natürlich eine große Verantwortung, aber auch ein tolles Gefühl zu wissen, wie sehr dein Leben und deine Karriere andere Menschen und ihr Leben beeinflussen können.

Als jemand, der in seiner „Fantasiewelt“ lebt, wie du auf Instagram gesagt hast: Wie sieht ein perfekter Tag in deiner Fantasiewelt aus?

Er würde definitiv am Strand beginnen. Ein perfekter Tag in meiner Fantasiewelt würde so aussehen: früh aufstehen, zum Strand gehen, um morgens zu schwimmen und zu schnorcheln, um die Unterwasserwunder zu bewundern, den Sonnenaufgang zu beobachten und den Geräuschen der Natur zu lauschen, während die Stadt noch schläft. Natürlich genieße ich einen guten Kaffee, schließlich bin ich Italienerin, da ist Kaffee ein Muss. Dann mache ich mich auf den Weg ins Atelier, um meiner Kreativität freien Lauf zu lassen, bis ich mit meiner Arbeit vollkommen zufrieden bin.

Hier das aktuelle Musikvideo der Single „Origami“, die am 4. Juli 2024 via Sony Music erschienen ist:

Aus dem FAZEmag 150/08.2024
Text: Rafael Da Cruz
www.instagram.com/anfisaletyago