
Breakbeats aus der Lagerhalle: Los Angeles’ neue Rave-Szene
Das Herz von Los Angeles, Downtown, schlägt – und zwar im schnellen Techno-Beat: Seit der Corona-Pandemie veranstalten junge Menschen zunehmend illegale Raves in verlassenen Lagerhäusern in Downtown. Die Szene hat dabei ihr ganz eigenes Verständnis vom Underground.
Ein Spätsommertag in Los Angeles Downtown, auf der E 3rd Street: Verkaufsstände reihen sich an den Bürgersteigen aneinander. Hier verkaufen Latinos veraltete Elektronik, Granatapfelsaft oder Tacos. Vor den eingeschossigen Lagerhäusern, an denen die Pepsi-Werbung der 2000er abblättert, schlafen Obdachlose unter Decken aus Karton.
Für Touris ist dies eine Gegend zum Durchfahren – für die illegale Rave-Szene der Stadt die wohl spannendste Gegend Kaliforniens: Im Stadtzentrum von Los Angeles, wo sich gläserne Bankentürme neben bröckeligen Altbau-Pensionen und Slum-Siedlungen unter Freeway-Brücken abwechseln, blüht der Untergrund der elektronischen Tanzmusik neu auf.
An jenem Sonntag ergießt sich der Autoverkehr wie flüssiges Blei aus dem Freeway 101 ins Stadtzentrum. Unter die Verkehrsgeräusche mischt sich ein dumpfes Stampfen. Auf einer zum Parkplatz umgewandelten Brachfläche findet heute ein Rave der Blind Tiger Crew statt. Allmählich verwandelt sich das stumpfe Hämmern zu einem groovigen Tech-House-Beat. Zwei silberne Foodtrucks stehen auf einer Kunstrasenfläche, von einem Metallzaun umgeben. In einem legt ein DJ auf. Davor tanzt eine Gruppe von jungen Menschen in luftigen Bermuda-Shorts und Raver-Sonnenbrillen. Die Szene wirkt harmlos. Dieser Rave soll illegal sein?

Am Rande des zur DJ-Booth umfunktionierten Foodtrucks steht Art, Künstlername DJ Bingewatch. Der 34-Jährige DJ hat 2020 die Blind Tiger Crew, ein Techno-Kollektiv in L.A., gegründet. Er zeigt auf das Lagerhaus, das sich hinter der Kunstrasenfläche befindet – dort finden nachts die Raves der Blind Tiger Crew statt. „Los Angeles ist eine Hafenstadt. Hier gibt es so viele verlassene Lagerhäuser“, sagt Art. „Will man einen Rave veranstalten, kontaktiert man den Besitzer, muss dann aber meistens tausende Dollar Miete bezahlen. Oder man sucht sich einfach ein verlassenes Lagerhaus.“ Illegal sei der Rave deshalb, weil nach zwei Uhr nachts kein Alkohol verkauft werden dürfe – was auf Technopartys, die bis in die Morgenstunden gehen, der Fall sei, erklärt Art. Für Veranstalter ein lukratives Geschäft. Dass irgendwann ein Räumungsbescheid an der Tür des Lagerhauses hängen könnte, befürchtet Art nicht. „Niemand juckt die Stadtentwicklung hier in Downtown.“
Die L.A.-Rave-Szene als Schattengewächs: Gerade die Innenstadt von Los Angeles, allen voran der Stadtteil Skid Row, verzeichnet überdurchschnittlich hohe Kriminalitätsraten. Einer Statistik des FBI zufolge wurden 2022 doppelt so viele Straftaten pro 100.000 Einwohner*innen begangen wie im nationalen Durchschnitt. Und weil sich das Los Angeles Police Department (LAPD) eher um Gewalttaten, Einbrüche und Diebstähle kümmert und weniger um den Rave, auf dem illegal Alkohol ausgeschenkt wird, profitiert die Szene von der vernachlässigten Stadtentwicklung in Downtown.
Von DIY-Spaces zur EDM-Kultur und wieder zurück
Dabei haben Underground-Raves in Los Angeles eine lange Tradition. In den frühen 1990er-Jahren beeinflusste die UK-Rave-Kultur die kalifornische Szene, und DJs begannen, härtere elektronische Musik wie etwa Hardcore, Jungle und Drum ’n‘ Bass aufzulegen.
Bestens vertraut mit der Geschichte der Raves in Los Angeles ist DJ und Produzentin Bianca Oblivion. Als Tochter mexikanischer Einwanderer wuchs Oblivion in den späten 1980er-Jahren in Culver City auf, einer Stadt im Los Angeles County. Schon früh begeisterte sie sich für das Auflegen von elektronischer Musik. In den 2000er-Jahren florierte die Rave-Szene in Los Angeles: Oblivion erinnert sich an ihre ersten Erfahrungen mit Underground-Raves: „Man bekam die Adresse einer Location, etwa ein zerstörtes Apartment oder Lagerhaus, das waren teilweise dauerhafte Orte für Raves. Einige, zu denen ich oft gegangen bin, hießen etwa ,The Rave Cave’ oder ,The Hair Gallery’. Es gab dauernd neue Orte in Downtown.“ Neben den Raves ging Oblivion auch in kleinere, etablierte Nachtclubs aus, von denen damals ebenfalls viele existierten.

Das alles änderte sich in den späten 2000er-Jahren mit dem Hype um Electronic Dance Music, kurz EDM: Eine stadiontaugliche Peaktime-Musik, zu der populäre EDM-DJs wie Steve Aoki oder Hardwell gerne mal Konfetti oder ganze Sahnetorten in die Crowd ballerten – für Kritiker*innen die Festivalisierung von elektronischer Tanzmusik. Gleichzeitig änderte sich die kulturelle Topografie von L.A.: Kleine DIY-Spaces mussten schließen, Firmen investierten viel Geld in den Bau neuer Eigentumswohnungen. Oblivion erzählt, dass in den 2010er-Jahren die kleinen Nachtclubs für niedrigschwellige Techno-Events langsam verschwanden. „Zu dieser Zeit konntest du nicht mal mehr einen tourenden DJ für einen kleinen Club buchen, weil es zu kostspielig war“, erinnert sie sich. „Clubs deckten die Buchungsgebühren der DJs nicht ab. Viele Promoter haben Geld aus ihrer eigenen Tasche genommen, um Künstler*innen von außerhalb zu buchen, und haben es nie wieder zurückbekommen.“
Mit der Corona-Pandemie 2020 kam die Zäsur für die Club- und Ravekultur: Denn während die Lockdowns die kommerziellen Clubs in finanzielle Not brachten, entdeckte eine neue Generation von Raver*innen und Promoter*innen die Rave-Kultur über das Internet. Ganz ohne die Loyalität zu bisherigen Eventreihen und Clubs – und deutlich diverser: Weibliche, Schwarze und Latino-DJs wurden sichtbarer und bestimmten die Szene stärker mit.
Im Jahr 2021 gründete Oblivion zusammen mit den DJs Star Eyes und AK Sports das Techno-Kollektiv Warp Mode Crew. Zunächst veranstalteten die drei Freund*innen erste illegale Raves im Stadtraum. Heute kann Oblivion gut vom DJing leben. Sie spielt auf großen Festivals wie dem Glastonbury, tourt um den Globus und veranstaltet Ableton-Workshops für den DJ-Nachwuchs.
Social-Media-Marketing im Underground
Wieder in Downtown, diesmal Freitagnacht: Heute veranstaltet Gerard, ein Freund von Bianca Oblivion, einen Rave mit seinem Kollektiv „Incognito“. Um an die Adresse des Raves zu kommen, müssen Interessierte das meist 10 bis 20 Dollar teure Ticket über Resident Advisor kaufen und ein Keyword per SMS an die Kollektive senden. Die geben die genaue Adresse erst kurz vor Beginn preis, um eine Auflösung der Veranstaltung durch die Polizei zu verhindern. Denn obwohl sich die LAPD um schwerwiegendere Gesetzesverstöße kümmert, löst die Polizei manchmal doch Raves auf: „Etwa, um eine bestimmte Quote zu erfüllen“, sagt Oblivion.
Der Weg zur Adresse führt durch die Newton Street, eine Straße im Fashion District. Auf der einen Seite verbarrikadierte Wohnwagen, auf der anderen ein leerstehender Stoffgroßhandel – der Name des Stadtteils könnte zynischer nicht sein. Dann rollen die ersten Autos an mit Menschen, die Unisex-Croptops, Netzhemden und Stacheldrahtketten tragen. Sie posieren auf dem Bürgersteig, lassen sich mit Digitalkameras ablichten. Der Rave scheint ganz nah zu sein.
Hinter einem Garagentor brennt rotes Licht. Zwei Männer in schwarzen Ledermänteln, sie könnten direkt der Matrix-Filmreihe entsprungen sein, stehen am Garagentor, kontrollieren Ausweise und sorgfältig die Taschen. Die Security sei dazu da, um störende Personen von der Party zu verbannen und dafür zu sorgen, dass sich Leute auf der Tanzfläche wohlfühlen können, sagt Bianca Oblivion über die Kontrolle. Der Weg führt in ein zurückgesetztes Backsteingebäude. Industrial-Techno pulsiert durch die große Halle und acht große Leuchtstäbe blinken von der Decke abwechselnd rot und blau im Beat.
Ein paar Straßenblöcke südlicher sind mittlerweile immer mehr Leute auf der Straße zu sehen. In der Gegend laufen an jenem Abend gleich mehrere Raves, etwa „After Midnight“, wo Ghetto-Tech aufgelegt wird, oder „Nightshift“ der Blind Tiger Crew. Auf einem Rave unterliegen die Ticketpreise sogar dem Dynamic Pricing: Startete der Preis noch bei 15 bis 20 Dollar, müssen diejenigen, die noch um ein Uhr in der Schlange stehen, 30 Dollar zahlen. Weil die Venue so gut besucht sei, erklärt einer der Bouncer am Einlass.
Handelt es sich überhaupt noch um Kollektive? Oder nicht viel mehr um Agenturen? Bianca Oblivion erklärt, dass auch größere Clubs versuchten, ihre Veranstaltungen als Rave zu branden: „Das Wort Rave wird gerade ziemlich viel herumgeworfen.“ Aber ist der kategorische Gegensatz zwischen Untergrund und profitorientierten Kollektiven und Clubs überhaupt möglich? Selbst die nischigsten Kollektive bewerben ihre Partys aktiv bei Social Media, Kollektiven wie Incognito folgen 20.000 Menschen.
Vielleicht ist auch die Musik die Trennlinie zwischen Untergrund und Mainstream: Fragt man die Leute in der Schlange, warum sie hier heute sind, wird oft das Genre angeführt. Wer Industrial-Techno oder Breakbeats möge, finde in den etablierten Clubs nichts, sondern nur auf Underground-Raves.
Wege aus der Fentanylkrise
Ein anderer Samstagabend im August: Erneut Downtown, diesmal in der Union Pacific Avenue: Das Kollektiv Toxic Haus veranstaltet einen Rave. Heute wird Safety Trance auflegen, ein venezolanischer DJ. „Safety Trance brings another bout of hard-hitting guaracha“, kündigt das Kollektiv die Techno-Szenegröße auf Resident Advisor an. Guaracha? Der Begriff macht neugierig.
Treibende Kickdrums jagen durch die Straße und lassen die Location des Raves leicht aufspüren. Im Innenhof vor dem Lagerhaus stehen rund zwei Dutzend junge Menschen in kleinen Trauben und unterhalten sich. Eine Arcade-Maschine mit Retro-Games in der einen Ecke, ein Fotoautomat in der anderen. An einem Tisch werden kleine Armbänder aus Süßigkeiten gebastelt.
Ein Tisch fällt etwas aus dem Raster: Hier liegt nichts Süßes, sondern Bitteres – in Form kleiner Nasensprays mit Schlüsselanhänger. Doña, 27 Jahre alt und Promoter*in, steht hinter dem Tisch und bietet die Sprays kostenlos an. „Das sind Narcan Key Chains“, erklärt sie, „die enthalten den Wirkstoff Naxalone.“ Naxalone ist ein Opioid-Hemmer und ein Notfallmittel gegen die Überdosierung von Opioiden – wie zum Beispiel Fentanyl.

In den USA grassiert seit einigen Jahren eine Opioidkrise. Im Mittelpunkt: Fentanyl, ein synthetisiertes Opioid, in der Wirkung deutlich stärker als Heroin. Allein im vergangenen Jahr starben in den USA rund 75.000 Personen in Zusammenhang mit Fentanyl. Der Missbrauch dieser Droge war 2023 die häufigste Todesursache bei Amerikaner*innen im Alter von 18 bis 49 Jahren. Fentanyl ist kostengünstig herzustellen, mexikanische Drogenkartelle mischen deswegen immer mehr Fentanyl in andere Drogen.
Das ist besonders problematisch für die Rave-Kultur, wo der Konsum von Amphetaminen wie MDMA oder Kokain stark verbreitet ist. Konsument*innen wüssten dann gar nicht, was sie genau einwerfen, sagt Doña. Zeigen sich bei einer Person Anzeichen einer Überdosis, etwa blasse Haut, winzige Pupillen oder Schläfrigkeit, könne die Person schon in wenigen Minuten sterben, warnt sie. Mit Naxalone lässt sich wichtige Zeit gewinnen – so lange, bis ein Krankenwagen kommt und weitere medizinische Versorgung sicherstellt.
Eine Stunde später steht Doña selbst auf der Tanzfläche in der Lagerhalle. Rund 80 Personen tanzen dicht gedrängt vor der DJ-Booth. Man sieht Leute mit Pixie-Cuts und Nietengürteln im Emo-Grunge-Stil der späten 2000er-Jahre, blinkende Ohrringe, Rucksäcke mit Anime-Prints. Beatswitch: Zu den synkopischen Reggaeton-Drums gesellen sich dubbige Bässe und folkloristische Trompetenmelodien. Zusammen ergibt das: Guaracha.

DJ Tekkno war an diesem Abend der Vor-Act von Safety Trance. Im Innenhof erklärt er, was es mit dem Genre auf sich hat: „Guaracha ist Techno, kombiniert mit lateinamerikanischer Musik.“ Nischigere Genres wie Guaracha zu spielen, darauf legt Toxic Haus viel Wert: „Für uns sind diese Raves Experimentierfelder.“ Und Safe-Spaces: DJ Tekkno will nicht, dass diese Raves zu groß werden: „Wenn es zu öffentlich wird, dann bringt das queere und trans* Artists in die Gefahr, angegriffen zu werden.“
Social-Media-Marketing, teure Ticketpreise und Modeaffinität – die Rave-Szene von Los Angeles ist nicht das, was man intuitiv als Underground labeln würde. Trotzdem sieht sie sich als diverser, nischiger und respektvoller als der Club-Mainstream. Nach Corona ist eine neue, ganz eigene Clubkultur entstanden.
Als im Januar 2025 zwischen den Pacific Palisades und bis Pasadena Brände wüten und tausende Menschen ihr Zuhause an das Feuer verlieren, findet die Rave-Szene ihre eigene Antwort darauf. Das Kollektiv Incognito etwa stellt Kollekten für Haustiere bereit, um von den Bränden vertriebene Haustiere mit Nahrung zu versorgen. Bianca Oblivion legt wiederum bei einer Soli-Party auf, von der 100 Prozent der Einnahmen an betroffene Familien aus Altadena gehen. Das Herz von Los Angeles, es schlägt.
Text: Maximilian Hossner

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