Das Neopop Festival in Portugal: Recondite im Interview

Neopop (852 of 1760)

Viana do Castelo. Warum Viana do Castelo? Das ist so klar wie Kloßbrühe: Weil in diesem traumhaft gelegenen Künstenort ein famoses und nicht minder aufwenig organisiertes Großereignis der elektronischen Musikmaschinerie stattfindet: das Neopop Festival. Mit einem Line-up, das selbst im hochtechnoiden Deutschland seinesgleichen sucht. Oder wisst ihr spontan, wann St. Germain zuletzt in unserer Heimat live auf der Bühne standen? Seht ihr. Wir haben es auf die Schnelle auch nicht rausgefunden. Was wir aber definitiv wissen: Die Show von Ludovic Navarre – wie St. Germain im realen Leben heißt – wird mitunter das Highlight des viertägigen Festivals. Wenn ihr jetzt grübel „Verflixt, wer war das noch gleich?“, sagen wir: Geht mal auf euer Lieblings-Videoportal und hört euch ein paar Soundfiles an, dann wisst ihr schnell, von wem wir reden.

Von der elektronischen Weltmusik nun zu reinrassigem Techno: Das Duo Adriatique, bestehend aus den beiden Adrians (Adrian Shala und Adrian Schweizer) wird für elektroiden Zündstoff sorgen. Ebenso wie die ultimative Turntable-Legende Jeff Mills, der so gut wie keinen Track länger als 40 Sekunden laufen lässt. Dann ist dabei: Josh Wink, der mit „Don´t laugh“ und „Higher State of Consciousness“ bahnbrechende Erfolge feierte. Im Vergleich zu ihm sind Nastia, Ben Klock und Solomun echt Newcomer. Mehr Infos über Line-up und Künstler erfahrt ihr auf der Festivalhomepage. Oder aber ihr blättert in der Juni-Ausgabe auf Seite 90, wo wir euch das Festival ausführlich vorstellen und euch auch die Preise verraten. Letzteres reißen wir jetzt hier und heute nur kurz an: Tickets gibt es zwischen 50 und 200 EUR.

Vielmehr möchten wir euch an dieser Stelle mal einen Act näher vorstellen. Es ist… Spannung… Tadah: Recondite. Auf der nächsten Seite lest ihr, ob er lieber in Niederbayern oder in Berlin ist, ob er ein neues Album in der Pipeline hat und wieso er seit Kurzem ausgerechnet und ausschließlich deutsche Tracknamen verwendet. Kurz noch ein Hinweis in eigener Sache: Weil das Interview so viel Spaß gemacht hat und Recondite so auskunftsfreudig war, können wir euch aus Platzgründen nur eine Art „Best of“ abdrucken. Das Gespräch in seiner vollen Ausführlichkeit findet ihr im Juli auf www.fazemag.de.

Man muss nicht unbedingt in London, Chicago oder Frankfurt geboren sein, um Erfolge im Musikzirkus feiern zu können. Klar liest es sich cooler „geboren in Miami, Florida” als „geboren in Simbach am Inn, Bayern”, was aber nicht heißt, dass man als Junge vom Land weniger kreativ ist, um exzellenten Sound zu generieren. Lorenz Brunner alias Recondite ist der lebende Beweis dafür, dass gute elektronische Musik durchaus ihre Wurzeln in Niederbayern haben kann. Sein Klangspektrum: sphärisch, atmosphärisch, melodiös, raumerfüllend. Erinnert an brillant produzierte Filmmusik, die perfekt zu einem Phantasy-Epos passen würde. Mit ihm habe ich eins meiner bisher interessanten Interviews geführt. Leset und staunet, was der 33-Jährige zu erzählen hat, der am 9. August beim Neopop Festival eine mit Spannung erwartete Live-Show spielen wird.

Wir haben etwas gemeinsam: Unsere beiden ursprünglichen Heimatstädte liegen in Bayern, und nur 90 Kilometer entfernt. Und beide haben wir den Sprung aus den ländlichen Gefilden in die Großstadt „geschafft”. Für mich ging es nach Köln, für dich nach Berlin. Wann war das und was war der Grund, Bayern „Servus” zu sagen?

Eigentlich war es in erster Linie der Wille, etwas an der damals vorherrschenden Situation zu verändern. Ich war als Physiotherapeut in einem Kurgebiet beschäftigt, hatte an sich einen guten Jobm, der es mir ermöglichte, mir meine Zeit so einzuteilen, dass ich genug Freiräume hatte, um Musik zu machen. Viele Freunde von mir lebten zu der Zeit allerdings bereits in Berlin, um zu studieren. Und ich hatte mich aufs Geratewohl bei einigen Stellen in Berlin beworben, die mir auf physiotherapeutischer Ebene neue Herausforderungen boten. Plötzlich kam eine Zusage und dann habe ich schnell gehandelt. Sicherlich hat meine musikalische Entwicklung da auch eine Rolle gespielt, aber nicht die vordergründige.

So schön eine Millionenmetropole auch ist – die ländlichen Regionen in Bayern haben ebenfalls ihren Charme. Ist es so, dass du dir in Bayern durch die Landschaft die Inspiration für neue Tracks holst? Wenn ja: Setzt du dich unter einen Baum, lässt die Sonnenstrahlen und die grünen Wiesen auf dich wirken und schon sprudeln die ersten Ideen – oder wie muss man sich das vorstellen?

(lacht) Nein, ganz und gar nicht. Bei mir funktioniert das mit der Inspiration nicht direkt durch spezifische Tätigkeiten. Da geht es eher um die Umstände, die mein ganzes Leben ausmachen: Wieviel Zeit habe ich, um in der Natur zu sein? Was mache ich dort? Wieviel Zeit muss ich im Flugzeug und in Hotels verbringen? Was macht das mit mir? Wieviel Zeit verbringe ich in der Großstadt, und habe ich die Möglichkeit, meine Zeit so zu organisieren dass sich das alles die Waage hält? Wenn das alles stimmt, dann bewegt sich mein Kopf in einem Gleichgewicht, welches ich persönlich brauche, um die Freiheit zu haben, die es mir ermöglicht, kreativ zu sein.
Recondite

 

Wo holst du dir sonst noch Anregungen für neue Produktionen?

Ich lasse so etwas eher auf mich zukommen. Mag sein, dass ich mal ein 90er Hiphop-Stück höre, in dem mich die Kickdrum motiviert, so etwas mal in einem Technotrack umzusetzen. Oder ich höre auf einem Festival einen schönen neuen Technotrack, welcher von einem DJ vor oder nach mir gespielt wird, der mich dann dazu bewegt, einen ähnlichen Ansatz zu wählen.

Laut Wikipedia bist du unter anderem ein „Klangkünstler” – und das trifft es ganz gut. Soundtüftler wäre auch noch passend. Wie definierst du selbst deinen „Look & Feel” in Sachen Live-Shows und eigener Produktionen?

Wenn das jemand so sieht („Recondite ist Klangkünstler”), dann freut mich das. Ich sehe das weniger aufregend. Die ganze Tüftelei an Sound ist für mich lediglich Teil des Prozesses. Wie ein Schreiner gutes Werkzeug braucht, um ein schönes Regal zu erstellen. Er wird zwar Befriedigung durch den Entstehungsprozess erfahren, aber am Ende geht es um das fertige Produkt, das einem dann Freude bereitet – oder nicht. Ich bin da eher pragmatisch, was das Produzieren angeht. Bei den Live-Auftritten genauso – da wähle ich den direktesten Weg, meine neuen, unreleasten und alten Sachen – angepasst an die momentane Situation – wiederzugeben.

Deine Tracks veröffentlichst du auf dem Label von Rødhåd (Dystopian), auf Plangent sowie auf Innervisions, welches Âme und Dixon betreiben. Was sind deine Pläne für 2018?

Mein Pläne für 2018 sind in der ersten Hälfte des Jahres schon relativ weit fortgeschritten. Anfang des Jahres kam mein fünftes Album auf meinem Label “Plangent Records” raus. Jetzt, Ende Mai, meine “Rainmaker” EP auf Afterlife, welche ja auch sechs Stücke beinhaltet. Mal sehen, was das Jahr noch so bringt – ein paar kleine Dinge kommen noch.

Dein neues und zugleich fünftes Album „Daemmerlicht” hast du im Februar Records releast. Erzähl doch ein bisschen etwas über die Entstehungsgeschichte.
Das Album kam grundsätzlich aus der Idee, einfach mal die Stimmungen, die ich gerne in Tracks verpacke, anders dazulegen. Ich habe auf vielen meiner Veröffentlichungen Stücke, die alternative Beatstrukturen aufweisen – zum klassischen Four-to-the-Floor-Gerüst. Das ging schon auf meiner allerersten Platte (PLAN001) los. Wenn man sich da den ersten Track (Intro) anhört, erkennt man schon Parallelen zu Daemmerlicht. Des Weiteren wollte ich meine Soundpalette erweitern, und zwar in Richtung Soundtrack. Ich bin ein großer Freund von Momenten, wenn ein guter Film durch die richtige Musik noch besser wird. Ich habe mir für das Album außergewöhnlich viel Zeit genommen und nebenher auch verschiedene Techno-Produktionen fertiggestellt. Allerdings war das Arbeiten an „Daemmerlicht” auch immer eine gewisse Art der „Erholung” während eines Zeitraumes, in dem ich sehr viel auf Tour war.

 

Recondite „Daemmerlicht” (Plangent Records)
01 – Daemmerlicht 04:11
02 – Durch Den Hohlweg 07:28
03 – Lichtung 05:24
04 – Hoelenlichter 04:09
05 – Der Steinmetz 03:05
06 – Von Der Kanzel 03:31
07 – Am Tag Danach 04:31
08 – Im Holz 03:32
09 – Am Sonntag 04:28
10 – Im Regen 02:08
11 – Unten 04:51
12 – Immer Da 04:48

Der Steinmetz steigt von der Kanzel herab und geht am Tag danach im Regen durch den Hohlweg zu einer Lichtung, um das Daemmerlicht zu sehen. Für einige mag dieser Satz verwirrend klingen. Nicht für dich. Klär unsere Leser doch mal auf – warum nicht?

Für mich sind das sehr lautmalerische Namen, die ich direkt mit Bildern oder Szenarien verbinde. Da steckt viel Raum für Fantasie drin. Los ging das mit den Titeln dieser Art bei mir, auch auf der PLAN001 mit dem Titel „Unterholz”. Dort hatte ich auch schon so bildhafte Assoziationen vor Augen, wenn eine Person durch das Unterholz stapft – vielleicht im Mittelalter, außerhalb der Burgmauer, zum Sonnenuntergang, während der Nebel aufzieht, um – keine Ahnung – Heidelbeeren zu sammeln. (lacht)

Recondite_-_Daemmerlicht_-_Front

 

Weshalb hast du dich für deutsche Tracknamen entschieden, und picke doch einfach mal einen Track heraus und erkläre den Zusammenhang zwischen Track und Name.

Das Lautmalerische hat für mich die Hauptrolle gespielt. Ich konnte die gleichen Namen mit der gleichen Wirkung auf mich persönlich einfach in keiner anderen Sprache finden als in meiner Muttersprache. Bei „Immer Da” ging es zum Beispiel um ein Ohrengeräusch, das ich Ende 2015 nach zwei Jahren intensiven Tourings hatte. Das war ein Tinnitus im tief „freuenden” Bereich, d. h. ich hatte eine dauerhafte Brummschleife im Ohr. Anfangs dachte ich, wenn ich morgens aufwachte, dass irgendein Auto mit laufendem Motor vor dem Haus stehen würde. Irgendwann hatte ich das Brummen auch nachts und meine Frau hatte natürlich nichts gehört. Das hat mich schon ziemlich fertig gemacht, da ich wirklich zuerst keine Ahnung hatte, woher das kam. Logischerweise dachte ich nie daran, dass das Brummen von innen kam, sondern im Gegenteil: Ich bin in der Gegend herumgerannt, mit meinem Field Recording Mikrofon und habe quasi „nichts” aufgenommen. Das habe ich dann in Ableton gepackt und irgendwelche tieffrequenten Geräusche in der Aufnahme der Stille extrahiert. Dann dachte ich „Ok, ich habe hier gerade den Brummten aufgenommen.” Vollkommen absurd. Ich bin sogar soweit gegangen, dass ich das örtliche Geothermie- Kraftwerk kontaktiert hatte, welches in unmittelbarer Nähe zu unserem Haus stand, um zu fragen, ob ich dort mal auf das Gelände dürfte, um zu hören, ob das Brummen von dort kam. Das wurde mir dann erlaubt und ich bin mit meinem Recorder aufgelaufen und habe das Wummern der Generatoren aufgenommen. Bei „Immer Da” läuft dieser Brummten im Hintergrund auf der gleichen Frequenz wie die Streicher. Ganz am Ende des Tracks hört man das Brummen isoliert lauter werden. Irgendwann bin ich dann – einsichtig mit der Erkenntnis dass, die Ursache wohl doch eher intern zu suchen ist – zu einigen HNO-Ärzten gerannt. Bis hin zur Uni Klinik in München, wo überall festgestellt wurde, dass meine Ohren erstaunlich gesund sind. Irgendwann hatte ich ganz deutlich gemerkt, dass das Brummen wesentlich weniger wird, wenn ich mich entspanne (muskulär und psychisch) und dass mir die Gesamtsituation, in der ich war, nicht gepasst hatte. Wir sind nach diesen für mich wirklich heftigen zwei Jahren (ca. 275 Shows in 24 Monaten) aus Berlin nach Niederbayern zurückgezogen, in ein Miethaus am Stadtrand, um mehr Ruhe zu finden. Und ich hatte dann ab Anfang 2016 das erste Mal zwei Monate am Stück frei, kurz nach dem Umzug. Diese ganze neue Situation vor Ort hat uns dann so bedrückt, dass wir nach vier Monaten wieder die Segel gestrichen haben und zurück nach Berlin gezogen sind – in einen komplett anderen Stadtteil als zuvor, was sich dann als die richtige Entscheidung erwiesen hatte. Mein Tourplan wurde mit Hilfe meiner Agentur auf ein Maß an Gigs angepasst, das mich nicht überfordert. Meine Reiserouten wurden optimiert, ich habe mir meine freien Zeiten eingeräumt und so langsam hat sich mein Körper und Kopf wieder entspannt und mein Brummton ging weg.

 

Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie cool findest du die folgenden Stilrichtungen? (1 = Flop, 10 = Top)
Tech House: 6
Acid: 7
Rave: 6
Ambient: 7
Psy-Trance: 6
EDM: 3
bayrische Blasmusik: 5

Frankfurt, Los Angeles, San Francisco, Barcelona, Ibiza, München. Das sind nur ein paar Stationen, die bei dir im Juni anstehen – bevor es dann im August zum Neopop Festival nach Portugal geht. Was war dein bester und wo dein kuriosester Gig? Und: Auf welchem Festival / in welchem Club würdest du gerne einmal spielen?

Den einen besten Gig kann ich beim besten Willen nicht ausmachen, denn dass ein Gig wirklich super ist, hängt von unzähligen Faktoren ab, welche wiederum jedes Mal anders sind. Wenn ich z. B. in die nähere Vergangenheit zurückgehe, dann war mein China-Wochenende sicherlich sowohl kurios als auch sehr gut. Direkt an der Chinesischen Mauer zu spielen ist natürlich schon mal sehr außergewöhnlich. Das war im Rahmen des „Great Wall” Festivals, das sehr hochwertig produziert war. Aber allgemein: Elektronische Musik in China zu performen, hat schon etwas Besonderes. Ich war im Zuge dieser Reise auch in Shanghai im „Elevator Club”. Dort spielte ich in einem kleinen intimen, restlos ausverkauften Club vor überwiegend chinesischem Publikum, das sehr herzlich und dankbar war für die Musik. Es herrschte eine außergewöhnlich gute Stimmung, sodass ich sogar nach meinem Set noch ein bisschen B2B mit dem Resident-DJ gespielt habe.

 

Und jetzt lass uns noch ein bisschen schabernacken …
Was bevorzugst du:

a) Chillen mit deiner Freundin
b) Party mit den Jungs
am Ende des Tages und in der Summe a.

a) Blockbuster im Kino
b) Theatervorstellung
A, aber nicht zwangsläufig den Blockbuster – es gibt ja auch andere Filme im Kino (lacht)

a) Kaviar, Champagner und Haute Cuisine
b) bayrischer Schweinebraten mit Semmelknödel
Im direkten Vergleich mit Sicherheit b, wobei Schweinebraten nicht mein Top-Top-Lieblingsessen ist. (lacht)

Neopop Festival // 8.-11.08.2018 // Viana do Castelo (Portugal)

Line-up: St. Germain, Adriatique, Paula Temple B2B Rebekah, Jeff Mills, Recondite, Apolonia, Joseph Capriati, Len Faki, Josh Wink, Marco Carola, KiNK, Nastia, Ben Klock, Solomun, Ricardo Villalobos, Dax J, Nina Kraviz u. v. a.

www.neopopfestival.com

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