Die Brücke zwischen Tradition (Vinyl) und Moderne (digital) – eine Kolumne von DJ Less

Less is More? More is Less? More is More? Less is Less? Ist auch egal. Seit Mitte der 90s liebt es Stefan Leßner alias Less, Vinyl aufzulegen. Er ist Überzeugungstäter, Idealist und Musikliebhaber. Releases auf Freude am Tanzen, Rotary Cocktail, Lebensfreude Records u. v. w. unterstreichen auch in seinen Produktionen seine Diversität.
Zum Thema Vinyl und digital hat er ein paar Zeilen aufgeschrieben:

Die Brücke zwischen Tradition und Moderne oder „Wie gehen wir mit dem Wandel der Musik um?“

Bitte Abstand halten – hier kommt der angestaubte Boomer mit schwerem Plattenkoffer in den Klassenraum gerollt und will euch aus „guten alten Zeiten“ berichten. Das Thema meiner musikalischen Geschichtsstunde soll lauten: „Wie haben das die DJ’s früher eigentlich so gemacht?“

Der selbsternannte Lehrer sieht ungefähr so aus: Krummer Rücken, Papa-Bauch, der Rest eher unsportlich proportioniert, Augenringe bis zum Knie, Bandshirt von irgend so einer Gruppe aus den 80ern und ein fresher Haarschnitt, der das Alter zu retuschieren versucht. Also dann… „Es war einmal…“ Star Wars Musik bitte und Schriftzug entsprechend reinfahren… Danke!

Ohne Internet bedurfte es viel Recherche und/oder Glück an die geilsten Underground-Gems zu kommen. Man summte dem Plattenverkäufer die Bassline vor und hoffte, dass dieser den Track dann noch erkennt. Natürlich musste die Platte dann auch noch im Laden vorrätig sein. Doof nur, wenn der Dude hinter dem Tresen selber DJ war und seine Geheimwaffen nicht rausrücken wollte. Ich habe somit manche Tracks teilweise jahrelang gesucht, bis ich sie später bei Discogs fand. Das war wie die Suche nach dem heiligen Gral. Schon anders als Shazam und Beatport.

Im Club tippte man den DJ beim Auflegen an und fragte nach dem geilen Track, der gerade läuft. Den versuchte man sich dann entweder zu merken (bei einem Rave ’ne ganz schlechte Idee) oder schrieb ihn auf einen Zettel. Oder ganz kreativ: Man tippte eine SMS in sein Nokia-Handy. Notizfunktion oder Wantlist gab es bei den Dinosaueriern noch nicht. Das Besorgen der Platten war dann teils abenteuerlich und die Suche war Standardprogramm für jeden Urlaub in einer neuen Stadt. Ich kann mich heute noch an den Kauf der ein oder anderen Platte erinnern. Woher ich sie habe und welches Gespräch ich dort führte oder wie es dazu kam. Emotionales Gedächtnis und so. Oder was bei jenem Track im Club passierte. Aufwendig, teuer und physisch schwer aber irgendwie sehr romantisch. Und dann noch die Haptik. Ich stehe auf das Anfassen von Dingen.

Die Kehrseite waren/sind allerdings folgende Stolpersteine:

⁃ Gewicht (Ja, so ein Plattenkoffer ist schwer)
⁃ Preis ( 5 Mark vs. 15 Euro vs 1,50 Euro)
⁃ Beatmatching per Handwerk und dann noch die Plattenspieler … Gott, habe ich die billigen Reloop-Player gehasst, weil man sie förmlich nur schief anschauen musste, um sie aus dem Takt zu bringen. Aber es gab dennoch ein paar Gigs, welche damit grandios absolviert wurden. Eben weil der Rest stimmte.
⁃ Keine Savecard am Display die optisch nochmal versichert, dass der Track synchron mit dem anderen läuft (BPM, Takt) – das Gehör ist Fluch und Segen, sag ich Euch. Besonders im öffentlichen Raum, wenn irgendwo zwei Tracks/Songs laufen und man imaginär versucht, sie anzugleichen.
⁃ Nadelspringen, Sprung auf der Platte, Kratzer/Staub auf der Platte. Habt ihr schonmal erlebt, wie die Nadel über die Platte surft, weil unten ein Staubknäuel an der Nadel ist?
⁃ Oder habt ihr schon mal eine Platte auf dem drehenden Teller schmelzen sehen weil die Sonne darauf scheint? Wie sie sich dann anfängt in Wellen zu wölben? Großes Kino und pure Panik!
⁃ Ist euch schonmal ein Tänzer mit Seegang ans Pult geknallt, während ihr die Platten gemixt habt? Holper holper!
⁃ Bassresonanzen via Nadel (WOOOOOAP, BRUMMMMMM …) – ganz schlecht. Bass reindrehen war da quasi unmöglich. Ich frage mich wirklich, wie das damals zur Loveparade auf dem Truck gewesen sein musste. Also in der Zeit vor den CDJs.
⁃ Begrenzte Auswahl. Hab ich die richtigen Platten dabei?
⁃ Beatkorrekturen, wenn die Platten auseinander laufen und die Melodie leiert. Ich fand ja immer die DJs beeindruckend, die das nur mit dem Pitcher gemacht haben, ohne die Platte anzufassen.)
⁃ Schlechte Monitor-Abhöre. Ganz toll: Wenn es nicht mal eine gibt und du dann den Hals nach vorne über das Pult versuchst zu verrenken, um zu erahnen, ob der Mix stimmt. Giraffenhals wäre da hilfreich.
⁃ Keine Loopfunktion (Vermisse ich. Aber die Zeit von RedSound-Samplern ist wohl vorbei) und vermutlich das Coolste am digitalen Auflegen, wenn man kreativ sein will.

So viel zu der Tradition …

Und heute geht das ungefähr so:

Im Club einen heißen Tune gehört. Shazam gezückt, Track in der Wantlist und fertig. Der DJ oder die DJ tanzt überzogen auffällig hinter dem Pult umher. Displays leuchten (Ein Hoch auf jeden Club mit Fotoverbot. Mindfullness und so. Kennste?). TikTok-Feuerwerk: Alles Zischt, knallt und ist irgendwie viel zu hell für einen Club. Ich mochte die dunkle Nebelwelt damals. Aber okay, ich drifte ab…

Auf dem Weg zum Gig – Social Media natürlich immer dabei – nochmal schnell bei Bandcamp ein paar Tracks laden. Im Optimalfall werden noch die Promos von Freunden oder Bekannten in die Recordbox geknallt, der neueste Track wird fix noch rausgerendert und mit in die Playlist geworfen. Oder noch besser: vom Mastering-Dude im ICE via Mail im Zug geladen. Dann ganz entspannt den Stick in die Tasche und los geht’s. Alles dabei an Tracks und viel viel mehr als man jemals brauchen würde. Keine schwere Kiste, die man hinter das Pult und durch die Menge schieben muss. Neulich wurde ich ganz verwundert angeschaut, weil ein Gast offensichtlich keine Ahnung hatte, was ich da so hinter mir her schleppe. Kein Risiko und kein mentaler Stress, keine Sorgen und mehr als genug Zeit um hinter dem Pult um zu performen. Der Gig selbst, wird dann im besten Fall gefilmt. Natürlich mit Feuerwerk und Armen hoch beim Drop. Man muss ja nicht schweißtreibend jede Sekunde darauf achten, ob die Platten auseinander laufen. Und wenn dann der heiße Content von deiner Begleitung und/oder Fans auch noch bei Social Media landet, wünschen sich alle, das auch zu erleben. So kann der/die ein oder andere DJ von heute auf morgen ohne jahrelange Übung vor einer Masse spielen. Ist das nicht geil? Passt zu unserer Zeit. Schnell, kurzlebig und digital. Und ja, oberflächlich.

Und schon sind wir angekommen zwischen zwei Welten und der Brücke dazwischen.

Vermutlich ist das Entry-Level der Grund, warum nun jeder Mensch auf nahezu jedem Ort dieser Welt und ohne viel Zeit- und Geldaufwand „mitmischen“ kann. Es braucht nur Internet, das richtige Set-up und ein paar YouTube-Tutorials und los geht’s. Dann noch die Moves des/der Lieblings-DJ abgeschaut und einen Namen gesucht, der sich einprägt. Fertigt ist das Produkt, was man bestenfalls super selbst vermarkten kann. Schon anders als der ewig gestrige angestaubte Dinosaurier, der auf all das nicht so viel Wert legt. Was dabei charmanter ist überlasse ich jedem/jeder selbst. Das Ergebnis ist aber nunmal eine sehr bunte und globale DJ-Welt. Was Qualität (und damit meine ich Selection) angeht vs. „Performance“ – da habe ich noch meine Zweifel. Ich denke, dass medialer Trubel mehr zum Erfolg beiträgt als Qualität in der Musik. Muss sich aber beides nicht zwangsläufig gegenseitig ausschließen. Ich kenne Kids, die das sehr charmant und unterhaltsam machen, ohne dass es zum Fremdschämen anmutet und die Qualität der Musik dabei dennoch herausragend klingt.

Also entweder macht man es sich bewusst schwer oder man trifft eine kulturpolitische Entscheidung mit Vinyl. Würde kein*e DJ mehr Platten kaufen, bräuchte kein*e DJ mehr Clubtools auf Vinyl zu veröffentlichen (Na? Merkt ihr was?). Es muss also Idiot*innen/Idealist*innen (sucht es euch selbst aus) wie mich und/oder Sammler*innen geben. Ist man stets unterwegs und spielt viel, muss ich zugeben, dass sich die Vorstellung mit nur einem Case auf Tour zu gehen, schon schwer gestalten kann. Und der Besuch beim Physiotherapeuten wird dadurch natürlich auch förmlich heraufbeschworen. Wie oft habe ich mich morgens nach dem Gig eine Treppe rauf geschleppt, wie der Glöckner von Notre Dame höchstpersönlich und mich und meinen Idealismus dann verflucht?! Auch wird wohl seitens der Veranstalter*innjen eher genervt geseufzt, wenn er den Aufwand für Vinyl betreiben muss, anstatt sich über den Idealismus zu freuen. Sondergepäck wird wohl auch beim Fliegen nicht mehr bezahlt und so bleibt ein riesen Hustle für Vinyl-DJs.

Neulich im Club habe ich neben den Platten selbst einige Tracks aus der Dose geknallt. Zum einen ein kurz vorher gebautes Intro – meinen neuen Remix, der frisch vom Premastering kam – und zum anderen Tracks, welche es schlichtweg entweder nicht auf Vinyl gibt oder die Platte nicht mehr zu bekommen ist. Die absolut ätzende Preisentwicklung, auch auf Discogs, ist eine Katastrophe für jeden, der wirtschaftlich denken muss. Für eine EP habe ich zuletzt bei Discogs 60 Tacken hingelegt. Fast die Hälfte davon war Versand (aus der Schweiz, LOL). Da sind 1,50 Euronen schon ne andere Nummer für den Track, den man will. Und dennoch rede ich mir ein, dass ich mich wie ein Werner Herzog, als Soldat der DJs sehe. Einer, der sich durch die obigen Unwegsamkeiten schlägt. Irgendeiner muss es doch machen, wenn es noch Plattenläden und Labels geben soll. Und zu meiner Verteidigung: Ich mache das nur noch als Hobby und nicht mehr jedes Wochenende. Es ist sehr cool bei DJs wie zum Beispiel Sven Väth, der immer noch mit Platte spielt, obwohl der nicht mehr der Jüngste ist und durchaus unterwegs mit Sack und Pack. Wie viele aus seiner Generation machen das noch?

Und was soll uns das jetzt sagen?
Zum einen Verständnis für Tradition und Moderne. Aus beiden Blickwinkeln.
Und zum anderen hoffe ich, dass die Brücke des Ganzen ist, das verstanden wird, wie wichtig die Trackauswahl ist. Dramaturgie. Finesse (mit vier Decks und Loopfunktion zum Beispiel) – und ja, auch Musikgeschichte. Ich liebe Sets, in die Geschichte eingewoben wird. Hört euch beispielsweise ein Set von IF oder DJ HELL an! Wer dann erkennt, welche Genre wie entstanden sind, wo sie herkommen und wie sie sich gegenseitig befruchtet haben, der wird oft verblüfft sein und verstehen, warum ausgerechnet diese beiden Tracks miteinander verbunden wurden.

Um das aber nicht zu verkopft zu betrachten: Denn eigentlich will man ja auch im Club nicht zur Schule gehen sondern seinen Alltag in die Tonne treten – musikalisch muss es halt einfach ziehen! Spannend, fordernd, rhythmisch und dramaturgisch.
Das also Wünsche ich mir von den Kids.
Und ich hingegen überdenke das „Vinyl only“-Thema und passe es lieber dem Momentum an.

In diesem Sinne (unplug, Eject) oder eben Platte vom Teller nehmen.

Amen!

www.instagram.com/less_ezuri/