Der DJ als Gesamtkunstwerk. Dieser DJ bietet eine Kombination aus Charisma, Erfahrung und Fähigkeiten, der sich weder Musikliebhaber noch Party-Gäste entziehen können. Jedes Set ist eine Offenbarung und jeder Gig ein Event. Wie oft wünscht man sich, solch einer Persönlichkeit im Nachtleben zu begegnen? Alle Feierfreunde unter euch, die im Club-Kontext schon mal auf DJ Hell getroffen sind, können sich glücklich schätzen, denn Helmut Geier bietet all das oben Geschilderte und noch viel mehr. Es war mal wieder Zeit für ein Interview mit der bajuwarisch-berlinerischen Stil-Ikone. Und weil wir euch ebenfalls nur das Beste bieten wollen, haben wir gleich noch einen DJ-Mix von DJ Hell als Bonbon dabei.
Seit 1978 bist du als DJ aktiv. Das sind über 40 Jahre. Was ist der Grund dafür, dass du den Spaß am DJing noch immer nicht verloren hast, und was hat sich im Verlauf der vergangenen Dekaden daran und an der Interaktion zwischen DJ und Publikum verändert?
An der Interaktion mit dem Publikum hat sich kaum etwas verändert. Es stimmt, vier Dekaden sind schon eine Menge Holz – und was die Motivation angeht, halte ich es mit Rolf Bossi: im Sattel reitend abtreten. Techno leben, also das Produzieren und das Auflegen, und meine Profession als Labelbetreiber bilden mein Fundament neben der Kunst und der Verbindung zur Mode.
Nicht nur die Zahl der Events ist explodiert, auch die Zahl der geschlossenen Clubs. Nicht nur in München, aber auch. Dort hast du viele Jahre als Resident aufgelegt, auch viele Gigolo-Nächte hast du in München und Umland gefeiert. Wie würdest du die aktuelle Club-Situation in der bayerischen Landeshauptstadt charakterisieren?
München war immer Hochburg elektronischer Aspekte. In den 1970er-Jahren wurde hier viel experimentiert, die Engländer nannten das Krautrock; das kam bei den meisten Protagonisten nicht gut an. In Bayern und Düsseldorf lief das unter dem Begriff „kosmische Musik“. Ich kann mich noch sehr gut an die ersten Acid-House-Rave-Partys Ende 1980 hier in München erinnern. Das Ultraschall, das Anfang der 1990er-Jahre seine Türen öffnete, hat ja bis heute noch einen klingenden Namen und sicher viele DJs und Produzenten beeinflusst. Im Moment gibt das Blitz im Deutschen Museum den Ton an und brilliert mit einer unfassbaren Soundanlage. Das MMA hat sich jetzt über die Jahre hin als erstklassiger Veranstaltungsort etabliert und dann gibt es das Harry Klein, die Rote Sonne, das Bob Beaman und unzählige kleine Clubs und ein aktives Nachtleben.
Club-Hits und Klassiker hast du in großer Anzahl produziert: „My Definition Of House Music“, „Der Totmacher“, „Diese Momente“, „Suicide Commando“, „Copa“, „Je Regrette Everything“ und, und, und. Warum ist es heutzutage so viel schwieriger, aus der Masse herausstechende Tracks zu finden? Schwemmt die große Masse an Veröffentlichungen die Klasse davon? Wie filterst du die Musik für deine Sets?
Viele der großen DJs haben ja „Vorkoster“ oder Leute, die aus der Masse der Releases die besten Sachen auswählen. Das sind mittlerweile gut bezahlte Jobs. Ich würde dieses Betätigungsfeld als „Downloaded For … Selector“ bezeichnen. Es gibt unzählige Möglichkeiten, die besten Tracks zu filtern und ein Set zusammenzustellen. Wichtig war für mich immer der Plattenladen vor Ort und eben die Profis dort, die schon mal die besten Releases sichern und für dich zurückhalten, da die besten Vinyls oft limitiert und sehr schwer zu bekommen sind. Ich spiele aber auch Files über USB und versuche hier auch durch eigene Edits oder neue Gigolo-Musik meine Sets aufzuwerten. Im Grunde könnte ich jedes Wochenende ein komplett neues Set anbieten bei der Masse an Releases.
Wie geht es weiter mit deinem Label Gigolo Records? An Demos wird es dir nicht mangeln. Wer kümmert sich aktuell um das Label und was steht für 2019 an?
2019 steht alles im Zeichen der Hell Box – „Past Present No Future“. Die Box wird auch ein neues Album featuren, also unveröffentlichte Tracks aus den vergangenen Jahren. Darüber hinaus wird die Box eine neue Single beinhalten und alles, was ich in den 1990ern analog releast habe, wird endlich final neu gemastert und editiert auf CD und digital erhältlich sein. Dann gibt es einen Soundtrack zum Film von Hennig Gronkowski, „YUNG“, der bereits zum Münchener Filmfest gefeiert wurde. Hier hatte ich das Musical Supervising und habe viele Songs zur Filmmusik beigesteuert. Außerdem werden bald eine Single mit Artbat und Hell und diverse neue Releases von Joyze Muniz und Josh Coffe veröffentlicht.
Was muss gute Tanzmusik vermitteln? Was muss sie beinhalten? Du hast immer wieder über den Tellerrand des „reinen“ Techno- oder House-Acts geschaut und bist unter anderem viel beachtete Kooperationen mit Klaus Nomi eingegangen.
Gigolo stand für Vielfalt. Klaus Nomi oder Fischerspooner waren neben Tiga oder Zombie Nation genauso wichtig wie Bobby Konders oder Terrence Fixmer, Kittin & The Hacker, Dopplereffekt, Vitalic, Tuxedomoon, David Carretta oder Puff Daddy. Als Namensgeber eines eigenen Musikgenres bin ich natürlich sehr glücklich über die Zeit im Electroclash. Hier erhielt Gigolo große Aufmerksamkeit. Gute Musik sollte immer auch Innovation und Experimentierfreudigkeit vermitteln.
Paul Kalkbrenner hat vor Kurzem im Interview gesagt, dass er die Zeit des Künstleralbums für abgelaufen hält. Er jedenfalls will sich jetzt auf Tracks oder EPs konzentrieren. Du bist dafür bekannt, dass deine Alben weit mehr als die bloße Aneinanderreihung von einzelnen Tracks sind – sie sind Gesamtkunstwerke. Wie stehst du dem Medium Künstler-Album aktuell gegenüber?
Ein Künstleralbum reflektiert nach wie vor den aktuellen Stand der Dinge. Hier kann man immer eine Weiterentwicklung der eigenen DNA repräsentieren. Im Club-Bereich ist das natürlich sehr auf einzelne Songs fokussiert. Kein Künstleralbum mehr zu machen, ist für mich keine Option. Viele Kollegen machen seit Jahren keine eigene Musik mehr, da sie eher wirtschaftlich agieren und das Branding als DJ mehr Prioritäten genießt.
Hell und Style und Fashion sind für immer miteinander verknüpft. 2004 hast du mit Karl Lagerfeld zusammengearbeitet, er hat dich fotografiert. Wie erinnerst du dich an ihn?
Karl Lagerfeld war ein Visionär und Vordenker. Ich denke auch, er war einer der größten Modeschöpfer und Künstler unserer Zeit. Das Shooting in seinem Pariser Atelier für das „V Magazine Nyc“ zählt sicher zu den Highlights meiner Karriere.
Du hast vor Kurzem in einem Kino-Film mitgespielt. Erzähl uns ein wenig über die Rolle und den Film, der nicht in Bayern oder Berlin, sondern im Ruhrgebiet angesiedelt ist. Hast du Interesse daran, öfter in diesem Bereich aktiv zu werden?
Das Agieren vor der Kamera fällt mir nach 40 Jahren Interviews und Foto-Sessions nicht mehr ganz so schwer. Ich kann hier Neuland betreten und vor allem in andere Rollen schlüpfen – und wie hier in „Pottoriginale“ vom großartigen Gerriet Starczewski auch mal einen Schlagersänger darstellen, der keinen Erfolg mehr hat als DJ und jetzt durch die Altenheime tingelt und auch mal im Edeka-Markt in Bochum performt.
Du hast in München, in New York und in Berlin gelebt. Welche Stadt fasziniert dich aktuell und wieso?
München ist meine Heimat, Berlin meine große heimliche Romanze, da sich hier seit Beginn der 1990er mein ganzes Leben und Schaffen als DJ, Labelbetreiber und Partyveranstalter abspielt. New York war sicher die beste Zeit in meinem Leben in den Jahren 2003 und 2004. Im Moment würde ich entweder gerne in Tokio oder Rio de Janeiro leben und arbeiten.
Ich habe dich als eloquenten und sehr reflektierenden Menschen kennengelernt – dennoch hast du in der Szene den Ruf einer „Diva“. Reagieren die Menschen auf Persönlichkeiten, die sie nicht greifen können, automatisch mit Ablehnung oder Neid? Wie empfindest du die Szene aktuell hinsichtlich Toleranz?
Alles Besondere ist ebenso schwierig wie selten.
Durch Social Media hat sich die Art und Weise, wie man der Zielgruppe auffällt und wie man sich einen Namen macht, komplett verändert. Wie stehst du dieser Entwicklung gegenüber und wie empfindest du das Aufkommen der neuen weiblichen DJ-Elite à la Amelie Lens und Charlotte de Witte?
Mit Amelie Lens hatte ich viele Bookings in München und Berlin, bevor sie zum Superstar wurde. Ich mag sie sehr als Person, gute Freundin und als DJ. Ich bin sehr, sehr glücklich, dass sie voll durchgestartet ist, und das in kürzester Zeit. Ich sagte ihr immer, sie solle sich voll auf ihre Modelkarriere konzentrieren, denn da war sie schon sehr erfolgreich und bekannt. Ich riet ihr dazu, das Auflegen, das DJ-Dasein eher nebenbei zu featuren – so kann man sich irren. Gigolo hatte schon Mitte der 1990er-Jahre ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen DJs im Roster. Bei Gigolo wurde hier nicht differenziert – alle waren gleich.
Aus dem FAZEmag 086/04.2019
FAZemag DJ-Set #86: DJ Hell – exklusiv bei iTunes & Apple Music