
DJ Hell ist ein Künstler, der sich nicht in Schubladen pressen lässt – weder musikalisch noch visuell oder politisch. Zwischen Avantgarde-Techno, Modekooperationen und gesellschaftlichen Statements bewegt sich Helmut Geier seit Jahrzehnten souverän durch die Grenzbereiche von Clubkultur und Hochkultur. Aktuell sorgt er gleich doppelt für Aufsehen: Mit Schauspieler und DJ Lars Eidinger verbindet ihn nicht nur eine persönliche Freundschaft, sondern auch ein künstlerischer Austausch, der sich bei gemeinsamen Clubnächten zwischen Theater und Techno entfaltet.
Parallel dazu hat Hell mit dem radikalen Kunstprovokateur Jonathan Meese ein zweites gemeinsames Album veröffentlicht – „Gesamtklärwerk Deutschland“, eine wuchtige, KI-gestützte Kraftwerk-Hommage, die zwischen Dekonstruktion, Wahnsinn und politischer Vision oszilliert.
Im Interview spricht der Münchner über diese ungewöhnlichen Kollaborationen, über seine Haltung zu KI, über die Kunst, immer wieder neu zu überraschen – und natürlich über den FC Bayern München.
Wir haben schon zahlreiche Interviews mit dir geführt – sowohl in der Raveline als auch im FAZEmag. Und es gibt immer wieder spannende Releases und interessante Entwicklungen von und um DJ Hell, die es uns als Notwendigkeit erscheinen lassen, dich ein weiteres Mal zum Gespräch zu bitten. Vor Kurzem haben wir noch über eine alte Fashion-Koop mit Levi’s gesprochen. Jetzt machst du aktuell etwas mit Drykorn. Was benötigt es, um eine Mode-Kooperation für dich interessant zu gestalten?
Meine Modekooperationen sind integraler Bestandteil meiner künstlerischen Vision. Fashion war immer Bestandteil der Clubkultur, und ich nutze diese Kooperationen, um auch meine musikalische Identität zu erweitern und vor allem neue, unverbrauchte Ausdrucksformen zu erschaffen – ob ich jetzt Brillen designe oder Unterwäsche oder T-Shirts und Schals mit Vertretern aus Berlin, oder wie jetzt einen HELL-Anzug mit der Marke Drykorn.
Es ist noch gar nicht lange her, da haben wir über Fußball und Autos gesprochen. Maserati hatte dir ein Fahrzeug zur Verfügung gestellt – ich glaube, es war ein Ghibli. Du meintest, für die Stadt sei das nix. Wie bewegst du dich im normalen Leben voran? Wie beschleunigst und wie entschleunigst du?
Ich fahre gerne viel mit dem Rad im Sommer und benutze auf Reisen Taxis oder werde bei DJ-Touren vom Flughafen abgeholt. Entschleunigen kann ich vor allem mit alten US-Muscle-Cars beim Lowriding außerhalb der Großstädte. Meistens bin ich in der Natur und schwimme ausgesprochen viel – das ganze Jahr in den bayerischen Flüssen.
Du hast gemeinsam mit Lars Eidinger bei Clubnächten wie der „20 Jahre Ampere”-Feier in München gespielt. Was passiert für dich in diesem musikalischen Wechselspiel – was unterscheidet ein Set mit Lars von einem solo kuratierten Abend?
Ich verstehe mich privat ausgezeichnet mit Lars, schätze ihn sehr als Künstler – in seiner Schauspielerei, als Fotograf und jetzt als Techno-DJ. Im März hatten wir vier gemeinsame Shows. Unsere Vorgehensweise ist immer der stündliche Wechsel am DJ-Pult. 2024, zu seiner Fotoausstellung in der Kunstsammlung NRW/K21 in Düsseldorf, gab’s eine sensationelle Party im Museum.
Impressionen von der „20 Jahre Ampere”-Feier in München mit DJ Hell und Lars Eidinger:
Wenn man euch beide auf der Bühne sieht – du mit jahrzehntelanger Technopraxis, er mit theatraler Wucht – wirkt es fast wie ein künstlerischer Dialog über unterschiedliche Systeme. Wie empfindest du diese Gegenüberstellung?
Sehr schöner Vergleich und trifft es ganz gut. Wir sind beide Grenzgänger in verschiedenen Kunstformen und befruchten uns gegenseitig. Wenn wir zusammen spielen, entsteht oft ein Spannungsfeld zwischen Club, Theater, Techno & Avantgarde. Wir sind Emotionsverstärker und überschreiten Grenzen zwischen allen Genres und Disziplinen. Musik, Performance und visuelle Kunst werden hier vereint.
Hier traten DJ Hell und Lars Eidinger zum ersten Mal als DJs gemeinsam auf:
Lars Eidinger sagt, er lege auf, um „das Leben zu spüren“. Du hast ihn als DJ mit klarer eigener Handschrift beschrieben. Was hat dich an seinem Zugang zur Clubkultur besonders beeindruckt?
Lars hat in Rekordgeschwindigkeit eine eigene Identität in seinen Sets gefunden und findet immer mehr zu seiner unverwechselbaren Handschrift.
Lars Eidinger in the mix:
In Interviews erzählt Lars, dass seine Schauspielkarriere ihm beim DJing oft im Weg stehe – das Publikum nehme ihn nicht immer ernst. Wie beobachtest du diese Spannung zwischen öffentlicher Wahrnehmung und künstlerischer Authentizität?
Natürlich kennen mehr Menschen den fantastischen Schauspieler Lars Eidinger als den DJ Lars Eidinger. Bisher war es immer so, dass sich alle auf seine Musik einlassen – oder meistens sogar überrascht werden. Wir werden das Zusammenspiel in Zukunft intensivieren und mehr gemeinsame Auftritte pushen.
Du selbst sprichst oft vom DJ als jemandem, der sich mit dem Publikum verbindet, fast auf spiritueller Ebene. Findest du dich in Lars’ Haltung wieder, wenn er sagt, es gehe beim Auflegen nicht um Perfektion, sondern um eine Form von Kommunikation?
Ich habe nie etwas anderes behauptet und das genauso empfunden. Es gibt auch die andere Theorie, dass ich mich voll und ganz auf mich und meine Musik fokussiere – und hierbei dann die Energie auf das Publikum automatisch übertragen wird. Äußerst wichtig bei den Auftritten sind in meiner Wahrnehmung der erste und der letzte Track im Set. Hier entscheidet sich sehr viel, wie die Musik, deine Message und Energie übertragen werden können.
Eidinger verweist gern auf Brecht, Warhol und das Prinzip der Durchlässigkeit in der Kunst. Sind das Haltungen, die dich auch in deinen eigenen Arbeiten leiten?
Andy Warhol oder David Bowie, Kraftwerk oder Marlon Brando, Tom Ford oder Martin Margiela, Stanley Kubrick oder Jeff Mills, Helmut Newton oder Jimi Hendrix – das sind Künstler, die mich in meiner Haltung und meinen Arbeiten maßgeblich beeinflusst haben und weiterhin als Inspirationsquelle dienen. Warhol hat den Alltag zur Kunstform erhoben – und ich mache Clubmusik zur Kunstform.
Auch Jonathan Meese ist eine solche Figur: laut, bildgewaltig, unbequem – aber mit großer Ernsthaftigkeit in seiner Kunst. Was hat dich gereizt, mit ihm ein zweites Mal ein Album zu produzieren?
Uns verbindet eine gemeinsame Ästhetik des Exzesses. Wir kümmern uns nicht um Mainstream-Konventionen, sondern stehen für kreative Freiheit, Mythos, Provokation oder anderes Denken und Agieren. Wir verbinden Kunstformen wie Musik, Malerei, Performance, Politik, Wahnsinn, visuelle Bearbeitung, Theater – Kunst als Gesamterlebnis, als Gesamtkunstwerk. Wir sind beide Anti-Stars und pflegen das gemeinsam. Unsere Kunst ist frei, unsere Kunst ist kompromisslos – und es geht immer um die Transformation Freiheit. Alles, was Jonathan in der Kunst erzeugt, entspricht auch meinen Vorstellungen vom Leben. Soll heißen: Wir verstehen uns blind. Nicht umsonst wird er als einer der wichtigsten zeitgenössischen Künstler weltweit gehandelt.
Der Begriff „Gesamtklärwerk“ klingt wie Meese: überdreht, symbolisch aufgeladen, fast dadaistisch. Was war dein erster Gedanke, als dieser Titel im Raum stand?
Ich glaube, der Titel spricht eine deutliche Sprache und benötigt hier keine weitere Definition. Was untergegangen ist beim aktuellen Album, ist der Untertitel: Wir sind sauer – wir sind richtig sauer!
Kraftwerk bildet die klangliche Grundlage von „Gesamtklärwerk Deutschland“, aber ihr dekonstruiert diesen Sound vollständig. Was war dein künstlerischer Anspruch bei dieser Art der Hommage?
Ich glaube, hier ist es gelungen, musikalisch in die Vergangenheit zu reisen und gleichzeitig in die Zukunft zu gehen. Im Grunde ist es ein musikalischer Liebesbrief an Kraftwerk.
Du hast in früheren Alben politische Themen oft subtil eingewoben – hier wirkt vieles sehr direkt, fast schmerzhaft plakativ. Ist das der Meese-Effekt?
Wir bieten Antworten auf viele aktuelle Fragen, die oft gestellt werden. Bitte dazu auch noch einmal das erste Album Meese x Hell – „Hab keine Angst, hab keine Angst – ich bin deine Angst“ anhören.
Meeses Mutter Brigitte, 95 Jahre alt, ist auf zwei Tracks zu hören. Wie war deine Reaktion, als klar war: Sie wird nicht nur Thema, sondern Stimme auf dem Album? Und wie hast du den Dialog von Mutter und Sohn musikalisch inszeniert?
Wir sind eine Band bestehend aus drei Mitgliedern. Brigitte ist unser Boss – und wir folgen ihr bedingungslos. Brigitte hat die größte Lebenserfahrung und Weisheit, und auf dem Album tritt sie als „Lady Toleranz“ in Erscheinung.
Das Video zur Single stammt von Andreas Loff, der mit KI arbeitet. Was war dein Zugang zu dieser neuen visuellen Sprache – zwischen Science-Fiction, Religion und Groteske? Und wie hast du es erlebt, dich selbst als KI-Puppe dargestellt zu sehen – ein Kontrollverlust oder ein neuer Spiegel?
Ich bin auf Andreas‘ Kunst gestoßen, als ich sein Video mit Darth Vader sah, der sich in einen Stormtrooper verliebt – sensationelle Story und wunderbare KI-Umsetzung. DJ Hell und beide Meeses als KI-generierte Kunstobjekte im Kurzfilm zur ersten Single haben uns bereits große Aufmerksamkeit beschert. Das Stern Magazin berichtete vom besten Video des Jahres, und bei den Oberhausener Kurzfilmtagen sind wir nominiert als bestes Musikvideo 2025.
Das Musikvideo zu „Gesamtklärwerk Deutschland“:
„Ich bin Dr. Deutschland / mach Deutschland klein / und mach es wieder groß” – das sind Zeilen, die provozieren. Was bedeutet „Deutschland“ für dich heute als künstlerisches Motiv, und wie nimmst du die politische Stimmung in Deutschland wahr?
Die Stimmung geht bei mir in die Richtung, dass ich immer weniger News verfolge und zum Beispiel keine Tagesschau mehr konsumiere. Wenn ich auf Reisen bin, nehme ich gerne die „Heute-Show“ oder Jan Böhmermanns „Neo Magazin Royale“ als Referenz zum aktuellen Zeitgeschehen.
Du bist ja Ur-Bayer, hast aber auch immer teilweise in Berlin gelebt. Wie empfindest du die Unterschiede zwischen den Bundesländern?
Ich bin in Bayern geboren und war 20 Jahre beteiligt am Aufbau des Berliner Nachtlebens. Die meiste Zeit habe ich in beiden Städten gelebt. München und Berlin sind grundverschieden – und werden es auch immer bleiben. Ich habe mich in München lange zu Hause gefühlt und 20 Jahre lang Berlin als Heimat empfunden.
Du hast mit International Deejay Gigolos ein Label gegründet, das elektronische Musikgeschichte mitgeschrieben hat – von Electroclash bis Techno-Avantgarde. Was bedeutet dir das Label heute, nach all den Jahren?
Es ist mein Lebenswerk.
Du releast regelmäßig auf verschiedenen Labels, zuletzt auf dem neugegründeten Label Activity FM. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
Die Jungs aus Bogotá betreuen meine Social-Media-Kanäle und starten gerade ihr eigenes Label.
Was wird in diesem Jahr noch von dir kommen?
Ein neues Hell-Album ist fertig und soll nach dem Sommer releast werden. Hoffentlich beginnen auch die Dreharbeiten für die DJ-Hell-Dokumentation noch dieses Jahr.
Thomas Müller unter großem Applaus raus, Florian Wirtz rein – eine gute Auswechslung in deinen Augen? Wie beurteilst du die Arbeit von Vincent Kompany?
Ich finde es bedenklich, wie hier mit Thomas Müller umgegangen wird beim FCB. Im Club sind zu viele fußballfremde Entscheider im Tagesgeschäft tätig. Ich sehe vor allem die Arbeit und Kommunikation von Max Eberl sehr kritisch. Thomas Müller nicht mal einen Vertrag mit reduzierten Konditionen anzubieten, ist schon dreist – und in meinen Augen eine krasse Fehlentscheidung. Leider gab es in Personalfragen viele Fehlbesetzungen in den letzten Jahren: Salihamidzic, Tuchel, Kahn sollten hier aufgeführt werden. Kompany hat Ruhe und Vertrauen in den Verein zurückgebracht, und das war in den ersten Monaten die wichtigste Maßnahme. Ich denke, Florian Wirtz wird sich für die Bayern entscheiden. Und ich hoffe, dass Thomas Müller weiter Fußball spielen wird – gerne in der Major League Soccer in den USA.
Den FAZEmag-Mix des Monats von DJ Hell x Lars Eidinger könnt ihr euch hier exklusiv für Leser*innen des Print-Magazins von FAZE kostenlos im Mai 2025 anhören. Den Code dazu findet ihr im Heft.
Das Album „Gesamtklärwerk Deutschland von“ DJ Hell x Jonathan Meese ist am 4. April 2025 via Buback erschienen.
Aus dem FAZEmag 159/05.2025
Text: Rafael Da Cruz
Credit: Max Atilla Bartsch
Web: www.instagram.com/djhellofficial