Es braucht wohl oft einen gewissen Abstand – sowohl räumlich als auch zeitlich –, um gewisse Dinge im rechten Licht zu betrachten. Und der vielzitierte Prophet im eigenen Land spielt auch in dieser Geschichte eine Rolle. Rüdiger Esch, Bassist der legendären Formation Die Krupps, wurde dieser Umstand auf einer Reise nach Kanada bewusst, wo die Band auf einem Festival spielen sollte. Kurz zuvor hat er im Rahmen des Eurovision Song Contests in seiner Heimatstadt Düsseldorf eine Veranstaltung namens „ElectriCity“ organisiert, die einen Blick auf die Geschichte der elektronischen Musik der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt geworfen hat: Kraftwerk, Neu!, DAF, La Düsseldorf, Der Plan, Die Krupps, Rheingold, Propaganda … Es war überfällig, Rudi machte ernst und begab sich auf Spuren- und Zeitzeugensuche.
Die Form der Oral History ist bei uns mit Jürgen Teipels „Verschwende deine Jugend“ (2001) – über die frühen Punk- und New Wave-Tage in Düsseldorf – populär geworden. Das Buch war nicht nur deswegen eine Art Vorlage für Esch, sondern weil es ebenfalls um seine Heimatstadt ging, er somit viele Geschichten aus erster Hand kannte und es eben noch neben Punk und New Wave über diese andere wichtige Musikströmung zu berichten galt. Anfang 2012 startete er seine Interviews, insgesamt sind 50 Personen, die zu Wort kommen. Aber es sind nicht nur die Protagonisten der Szene, die er dabei hat, sondern auch internationale Stimmen. Ganz wichtig ist bei dieser Geschichte die Rolle englischer Musiker, die „fasziniert waren vom postmodernistischen Szenario in Deutschland und in Düsseldorf. Andy McCluskey von OMD oder Martyn Ware von Human League fuhren total auf Kraftwerk ab: „Wie kann sowas so anders sein, als alles, was ich kenne?“ Daniel Miller, der Gründer von Mute Records, hat nicht nur Depeche Mode entdeckt, er förderte auch DAF in England, deren Album „Die Kleinen und die Bösen“ der erste Longplayer des Labels war und zu einem Megaseller mutierte. „Die kommen ja auch aus dieser Punk-Ecke, und auf einmal waren die Stars, verdienten Hunderttausende DM, fuhren Ferrari und ließen es krachen.“ Legendär auch der Auftritt von David Bowie bei „Wetten, dass…?“ im Jahre 1997, der auch im Buch erwähnt wird. Im Gespräch mit Gottschalk ging es um seine musikalischen Vorbilder. Bowie erwähnte Kraftwerk, Harmonia und Neu! und fragte ins Publikum, ob sie denn Neu! kennen würden. Es meldete sich ein Person …
Ein ebenfalls interessanter Aspekt des Buchs sind die verschiede Wahrnehmungen der Musiker, was ihre eigene oder die Rolle anderer angeht. So erwähnt Robert Görl, dass er ja wie Chrislo Haas auch Gründungsmitglied von Der Plan gewesen sei. Frank Fenstermacher, langjähriges Mitglied der Formation, erwähnt, dass Görl und Haas für ein paar Augenblicke – zwei, drei oder vier Stunden – Plan-Mitglieder gewesen seien. Beides nicht unwahr, aber eben eine andere Wahrnehmung. „Das Buch ist auch deshalb so interessant, weil die Leute alles selbst erzählen. Diese schwierigen und teilweise konträren Meinungen kannst du besser ein einer Oral History erzählen, denn jeder hat ein Recht auf seine eigene Meinung, jeder sieht eben nur seinen Blickwinkel.“
Eine sehr spannende Chronologie rund um die Geschehnisse in der legendären Keimzelle Ratinger Straße, bei der auch die Kunstakademie und Joseph Beys eine wichtige Rolle spielen. Und vor allem eine längst überfällige Würdigung deutscher Musikgeschichte. / Tassilo Dicke
“Electri_City – Elektronische_Musik_aus_Düsseldorf” ist im Suhrkamp Verlag erschienen, die gleichnamige Begleit-CD bei Grönland Records.
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Aus der Ausgabe 033/11.2014