FAZEmag-Jahrespoll 2019: Live-Act

Wechsel an der Spitze! Nach zwei Siegen in Folge ist Paul Kalkbrenner in diesem Jahr nur Dritter. Wir haben einen neuen Gewinner, der erstmals gewinnt und im letzten Jahr noch auf Platz 15 war. 

1 Reinier Zonneveld
2 Fjaak
3 Paul Kalkbrenner
4 Stephan Bodzin
5 Richie Hawtin
6 AKA AKA
7 KiNK
8 Rammstein
9 Marc Rebillet
10 Extrawelt

11 Anthony Rother
12 Worakls
13 Giorgia Angiuli
14 Jan Blomqvist
15 Niereich
16 Dapayk
17 Saytek
18 The Chemical Brothers
19 999999999

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FAZEmag-Jahrespoll 2018: Live-Act

 

Interview mit Reinier Zonneveld

Reinier, Glückwunsch zum Gewinn in der Kategorie „Live-Act“!

Wow, ich bin wirklich überwältigt und habe das auch nicht wirklich erwartet. Natürlich hofft man insgeheim darauf oder träumt davon, irgendwann mal zu gewinnen. Aber ich hätte nicht gedacht, dass die Leute mich dieses Jahr schon zum besten Live-Act wählen würden. Daher ist die Freude wirklich riesengroß und es ist eine wirklich große Anerkennung für all die harte Arbeit, die ich in mein Live-Set stecke. Ich erinnere mich, dass ich für einen Auftritt mit 100 Leuten auf einem Boot mein gesamtes Equipment, im Grunde mein komplettes Studio, mitgenommen habe. Alle schauten mich an und fragten sich: „Was wird dieser Typ tun?“ Es war großartig, mit dem Publikum zu interagieren, die Musik aus dem Studio live neu zu interpretieren und sie auf den Moment abzustimmen. Seit diesem Tag spiele ich im Grunde nur noch live.

Wie würdest du das Jahr 2019 rekapitulieren?

Das klingt ein wenig kitschig, aber das Jahr war so etwas wie eine wilde Achterbahnfahrt. 2018 lief bereits sehr gut mit dem Label, den Shows und der Tour im Allgemeinen. Ich war schon damals sehr zufrieden damit, wie alles lief. Ich hatte eigentlich nicht erwartet, dass 2019 alles noch schneller, besser und intensiver werden würde. Zu den Highlights gehören sicherlich die Veröffentlichung der 3-Track-EP mit Carl Cox und Christopher Coe auf meinem Label Filth On Acid und der Cercle-Gig, ein eineinhalbstündiges Live-Set im staatlichen Luftfahrtmuseum in der Ukraine, bei dem ich zwischen Flugzeugen gespielt habe und eine Menge verrückter Sachen mit Synthesizern und Drumcomputern gemacht habe. Auch meine Residency bei Awakenings und Time Warp macht mich mächtig stolz. Davon habe ich jahrelang als Besucher geträumt. Ich habe 2019 mehr als 150 Live-Shows gemacht, darunter eine Menge All-night-long-Nächte auf der ganzen Welt. Meine Fanbase ist rasant gewachsen und es ist wunderschön, so viele Menschen mit meiner Musik glücklich machen zu können. Ein sehr wichtiger Teil des letzten Jahres war es auch, dass ich meine persönliche Balance und Bandbreite in Sachen Klang gefunden habe. Ich habe herausgefunden, wie ich zeitgleich improvisieren und abdrehen kann, ohne dabei den natürlichen Flow zu verlieren. Das war immer einer der schwierigsten Parts, denn es ist wirklich leicht, sich mitreißen zu lassen und beim Spielen den Blick für das Ganze zu verlieren. In diesem Jahr habe ich das viel besser verstanden und es hat den Spaß sowie die Intensität nochmals gesteigert.

Dein Label Filth On Acid hat im vergangenen Jahr großartige Releases gefeiert.

In der Tat, wir hatten 2019 die meisten Nummer-1-Hits bei Beatport. Das klingt total surreal. Mit einem Track waren wir fast ein halbes Jahr lang an der Spitze, das hat vorher noch nie ein anderes Techno-Label geschafft. Wir erfahren unglaublichen Support auf der ganzen Welt, die Leute schätzen diesen Sound sehr. Auch zeichnet sich immer mehr ein für das Label typischer Sound ab, und das freut mich ungemein.

Welche Show war 2019 dein größtes Highlight?

Das ist wirklich schwer zu sagen. Es gab so viele besondere Gigs. Aber wenn ich einen wählen müsste, wäre es wohl meine eigene Party während des Amsterdam Dance Event, bei der ich ein zwölfstündiges Live-Set gespielt habe. Wir haben also um Mitternacht angefangen und um genau 12:20 Uhr mittags aufgehört. Die Show war ausverkauft und es war quasi von der ersten bis zur letzten Minute voll. Es war unglaublich, zu sehen, welche Energie dort herrschte über einen solch langen Zeitraum. Was mir an den All-Nightern wirklich gefällt und mich in Bewegung hält, ist, dass man irgendwann in einen Fluss gerät, bei dem man nicht wirklich darüber nachdenkt, was man als Nächstes tut, welches Instrument man benutzt oder welchen Synthesizer man nimmt – stattdessen verliert man sich irgendwann in der Musik. Auf eine positive Art und Weise. Alles scheint sich von selbst zu entfalten, so, als ob es automatisch ablaufen würde. Man muss nur darüber nachdenken, in welche Richtung man gehen will. Die Zeit verfliegt dann förmlich. Auf diese Weise habe ich einige meiner besten Tracks gemacht: Ich habe einfach während der Sets improvisiert, war mit der Crowd zu 100 Prozent im Moment und konnte so neue Ideen kreieren, auf die ich allein im Studio wohl nie gekommen wäre. Einfach weil diese Energie nicht zu reproduzieren ist. Dieser Vibe ist nicht kopierbar. So höre ich mir meist am nächsten Tag das Set noch mal an und schaue dann, wie ich einige Dinge in einen Track umwandeln kann.

Was braucht es deiner Meinung nach, damit ein Live-Act als gut bezeichnet werden kann?

Das hängt wohl von der Intention des Live-Gigs ab. Ich persönlich denke, eine Live-Show besteht aus drei Hauptpunkten. Zunächst einmal sind da die einzelnen Stücke, die Qualität der Ideen und Themen, die die Künstler verwenden. Zum anderen ist da die Show: Was wird live gemacht? Handelt es sich nur um vorher aufgezeichnete, zusammengemischte Tonspuren oder werden einige Maschinen wie z. B. Drumcomputer genutzt, um Rhythmen zu erzeugen? Oder Synthesizer, um neue Melodien zu kreieren oder die bereits vorhandenen zu verändern? Dazu gesellt sich der Part des Arrangierens, und das ist in meinen Augen wohl der wichtigste – wann und wie etwas gespielt wird. Die Menge zu lesen und sein Set danach auszurichten. Wenn man jedes Stück, das man machen will, im Voraus plant – egal ob es sich um ein Live-Set oder ein DJ-Set handelt –, dann verpasst man dieses kleine Stück Magie, das eine normale Nacht zu einer besonderen werden lässt. Ich glaube, das Stärkste an einem Live-Set ist, dass man sehr weit geht und auch mal etwas riskiert. Man kann alles einstellen, was man will. Man kann diesen Drumloop, der die Stimmung des Abends bestimmt, über Stunden beibehalten oder man kann ihn drehen und unter jeden beliebigen Track legen, den man will. Natürlich sollte man trotzdem schon fertige Tracks und Arrangements dabei haben, denn diese werden die Improvisation im Club immer schlagen. So eine vermeintliche Komplexität, die man im Studio in Ruhe ausarbeiten kann, wird man nur schwer im Club kreieren können. Auch ist es nicht möglich, über Stunden hinweg auf solch einem hohen Level zu improvisieren. Es sollte also eine gesunde Mischung aus Vorbereitung und Spontaneität sein.

Und gutes Equipment ist wohl auch nötig, oder?

Definitiv. Du musst dein Handwerk zu 100 Prozent beherrschen. Zu neuen Künstlern sage ich immer, sie sollen sich vorstellen, dass das Equipment im Club in etwa zehnmal schwieriger zu bedienen ist als im Studio bzw. zu Hause. So fühlt es sich zumindest an. Zu Hause kann man denken, dass man voll und ganz bereit ist, aber erst wenn eine Party im Gange ist und Leute vor einem tanzen, stellt man fest, wie schwierig die ganze Materie wird. Es ist wie ein fahrender Zug, den man nicht einfach anhalten kann. Man muss bei allem, was man tut, auf dem Punkt sein. Auch ist es immens wichtig, dass man seine eigenen Tracks kennt. Wenn man ein Set hat, dass nur aus eigener Musik besteht, muss man darüber nachdenken, wie die Musik auf dem Dancefloor tatsächlich klingt und wie andere Leute sie wahrnehmen, statt als Musiker seine eigene Musik zu interpretieren. Das klingt seltsam, aber man erlebt anfangs oftmals die Situation, in der man denkt, man hätte einen Hit produziert, und man dann merkt, dass dieser überhaupt nicht funktioniert. Dann gibt es Momente, in denen sich ein vermeintlich langweiliger Track als absolute Bombe entpuppt. Dieses Gefühl dafür entwickelt sich mit der Zeit.

Wie ist dein Setup aufgebaut?

Ableton ist mein Hauptprogramm, von hier aus kann ich über meine Soundkarte und USB meine Synthesizer und Drumcomputer anschließen. Aktuell reise ich normalerweise mit einem TR-909, einem klassischen Roland-Drumcomputer mit einem erstaunlich guten Klang. Die TB-303, die legendäre und klassischste Acid-Maschine, ist genauso mit dabei wie der Moog Sub 37, ein modernisierter und sehr geschmeidiger Synthesizer. Dazu kommt noch die Maschine von NI, quasi das Herzstück meines Live-Sets. Von ihr kann ich Rhythmen, Noten und Melodien an meine gesamte Ausrüstung senden. Von Ableton aus kann ich auch digitale Synthesizer und Drums verwenden, wenn ich will. Von bestehenden bzw. fertigen Tracks habe ich immer Backing-Tracks, die aus den Kick-, Bass- und Soundeffekten bestehen. Auf diese Weise kann ich im Studio sicherstellen, dass die Kick und der Bass, meiner Meinung nach das Rückgrat für einen guten Club-Track, wirklich glatt und sozusagen gemastert klingen. Die Synthesizer und die Drums füge ich dann live hinzu.

Welche Live-Acts sind deine persönlichen Favoriten?

Ich mag Paul Kalkbrenner sehr gerne. Seine Tracks und Live-Sets sind so melodisch und stark, haben einen großartigen Vibe und sind sehr gut gespielt. Ich mag auch Richie Hawtin, seine Live-Sets und Hybrid-Shows sind fantastisch. Auch, dass er Stücke von anderen Leuten spielt. Mir gefällt, dass er neue Wege kreiert und immer auf der Suche nach Neuem ist, vor allem mit Minus, und das bereits seit zehn bis 15 Jahren. Als ich anfing, mich für Techno zu interessieren, war es wirklich inspirierend, seine Herangehensweise zu sehen und die Art, wie er Musik live spielt und verändert. Speedy J und Chris Liebing haben auch eine Menge hybrider Sets gespielt, die sich darauf konzentrierten, neue Musik spontan zu kreieren. Ich war auf vielen Partys, auf denen sie gespielt haben, und sie haben mich sehr inspiriert. Neben diesen Jungs liebe ich auch den niederländischen Kollegen Egbert. Viel Energie und ein sehr kraftvoller, tanzbarer Sound.

Was sind deine Pläne für 2020 und was steht generell so an?

Mein Plan ist es, weiterhin das zu tun, was ich liebe. Bei Filth On Acid haben wir eine Menge wirklich großartiger Musik in der Pipeline. Auch wird es neue Releases von mir geben, ich war sehr fleißig im Studio. Das erste in diesem Jahr ist ein ganz besonderes, es ist ein Remix von PPKs „Resurrection“. Viele Leute wissen nicht, dass dieser Trance-Klassiker bereits ein Remix ist. Es ist ein Remix des berühmtesten russischen Komponisten, Edward Artemiev. Er ist jetzt 82 Jahre alt, aber irgendwann in den 70er-Jahren schuf er einen Track für einen großen russischen Film mit genau der Melodie, die man in „Resurrection“ von PPK hört. Wir haben das herausgefunden, als wir die Rechte für den Titel geklärt haben, hinter dem sich also eine große Geschichte verbirgt. Das macht es für mich noch spezieller. Es ist eine große Ehre, meinen Remix auf Filth On Acid zu veröffentlichen. Außerdem freue ich mich natürlich auf meinen Tour-Plan. Das Jahr ist im Grunde genommen schon komplett durchgeplant. Ich habe super Slots auf wirklich guten Festivals und Partys, von denen ich schon immer geträumt habe. Ich kann es kaum erwarten, dort meine Musik mit euch zu teilen. Dazu gibt es eine wirklich große Sache, die im Jahr 2020 ansteht und die sehr bald veröffentlicht wird. Das wird sicherlich meine Karriere weiter vorantreiben und ich kann es kaum erwarten, das mit euch zu teilen!

 

Text: Triple P
Credit: Cooper Seykens
www.facebook.com/reinierzonneveld