Johannes Brecht – Analoges Zeitdokument

Foto: Nino Halm
Foto: Nino Halm

Er ist studierter Musiker sowie klassisch ausgebildeter Pianist und Bassist. Seine Liebe zum Jazz und zu klassischer Musik ist genauso ausgeprägt wie die zur elektronischen Szene rund um House und Ambient. Diese beiden Welten verbindet der Stuttgarter Johannes Brecht auf schlichtweg unnachahmliche Art und Weise. So nimmt er regelmäßig mit ganzen Orchestern auf, ist Teil eines Avantgarde-Jazz-Trios, spielt elektronische Liveshows und Club-Shows rund um den Globus – und lässt dabei Grenzen zwischen beiden Welten verschwinden. Bereits im Kindes- und Jugendalter war er tief in der klassischen Musik verwurzelt und erfolgreich – zahllose erste Preise bei nationalen Wettbewerben, gefolgt von Universitätsabschlüssen als Jazzbassist und Pianist, ebneten sein Schicksal als Instrumentalist ziemlich eindeutig. 2013 entdeckte Brecht die elektronische Musik, verewigte sich noch im gleichen Jahr auf Imprints wie Mule Musiq und Poker Flat und addierte in den Folgejahren Labels wie Aeon, Noir, InFiné, Kompakt und Diynamic zu seiner Diskografie. Auf Letzterem schließt er nun das laufende Kalenderjahr ab. Auf der zehnten Ausgabe der Label-Reihe „Pictures“, was einem Minialbum gleichkommt, liefert Brecht eine eindrucksvoll facettenreiche Soundästhetik in fast vollends analogem Gewand ab – seine wohl größte Passion. Generell gilt die Reihe, für die in früheren Ausgaben bereits Namen wie Innellea, Tunnelvisions, Adana Twins, Denis Horvat und auch Moscoman verantwortlich zeichneten, als eine Art Zeitdokument des jeweiligen Künstlers oder Künstlerin. In diesem Fall klingt das Ergebnis wohl so organisch wie selten zuvor, setzte Brecht doch vornehmlich analoge Synthesizer und Hardware ein, statt sich komplett auf eine DAW zu verlassen. Live eingespielte Orchesterinstrumente statt Midi-Noten auf VST-Plugins.

Johannes, wie du zur Musik gekommen bist, ist mittlerweile bekannt – aber was oder wer hat dich auf deinem Weg besonders beeinflusst?

Zweifelsfrei mein Vater. Er ist Musiklehrer, deswegen hat bei uns zu Hause, seitdem ich denken kann, immer schon Musik stattgefunden. Wir haben zusammen musiziert, viel Hausmusik mit meinen Geschwistern gemacht – Musik war eigentlich immer in der Luft. In der ersten Klasse habe ich meine erste Klavierstunde genommen und kam direkt gut voran. Es hat mir wahnsinnig viel Spaß gebracht, und die Preise, die ich bei bundesweiten Wettbewerben wie „Jugend Musiziert“ gewonnen habe, haben mich natürlich zusätzlich motiviert. Dann kam der Kontrabass, und damit auch erst der Jazz. Eigentlich war die ganze Jazz-Geschichte ein Zufall, denn für mich war ein Klassikstudium eigentlich naheliegender. Doch mein späterer Professor, Mini Schulz, hat mich für den Jazz begeistert.

Mittlerweile bist du sowohl in der Klassik als auch im elektronischen Kosmos weit mehr als zu Hause. Was fasziniert dich an beiden Welten?

Das Tolle an beidem ist, dass es ein so gegensätzliches Paar ist. Die Klassik: Hochkultur, eine sehr lange und ehrwürdige Geschichte, mit vielen Regeln – sie ist der Kopf. Die Elektronik: geschichtlich betrachtet wahnsinnig jung, hier geschieht immer noch Pionierarbeit und bewegt oft auch den Körper – sie ist das Herz, der Bauch. Und deswegen fühlt es sich für mich besonders schön an, wenn beides ebenbürtig zusammenkommt.

Nicht selten schlägst du Brücken zwischen beiden Genres. Dein Produktionsstil ist klassischer Natur und liegt dem Musizieren näher als dem Baukasten-Prinzip in Ableton.

Für mich ist Performance das zentrale Element. Natürlich kann man auch in Ableton performen, aber ich meine grundsätzlich die musikalische Performance. Der Moment ist hier das Entscheidende. Ich glaube an den Moment, versuche ihn in Instrumenten festzuhalten, so gut das eben geht. Beim „Legospielen“ in der DAW ist das schwieriger, da diese eher statisch ist, unpersönlich fast schon – im Gegensatz dazu finde ich die Performance organisch, persönlich – man spürt den „Human Touch“, selbst wenn sich die Aufnahmen nicht ultra „live-ig“ anhören. Verstehe mich nicht falsch, ich arbeite auch sehr viel mit dem Computer, es ist das zentrale Element, in dem alles zusammenfließt. Aber es ist mir wichtig, dass der Computer keine Entfremdung darstellt, sondern die Musik eher unterstreicht oder in eine Form bringt.

In deinem speziellen Fall zwischen echten Instrumenten und typischer Studio-Gear – wie sieht dein Setup im Studio aus und was sind – zumindest aktuell – deine favorisierten Sachen?

Ich nutze sowohl akustische als auch elektronische Instrumente. Zu meinen Favoriten aktuell gehört der C-15 Synthesizer von Nonlinear Labs – ein ganz toller Synth, weil er eine grundsätzlich andere Denke hat. Er macht einen Schritt nach vorne, ist nicht einfach nur ein alter Klassiker nachgemacht. Neu, modern, digital, sehr gut spielbar. Er gleicht eher einem Instrument, als technischem Equipment. Hier kommt die Stärke des Instruments wirklich erst durch die Performance zum Vorschein. Dann die ADX-1, eine analoge Drummachine von MAM. Eigentlich trashig, aber ich liebe diese Knarzigkeit. Dann liebe ich natürlich auch Mikrofone, um akustische Klänge einzufangen. Hier sind die Unterschiede auch gewaltig; von alten dynamischen Mics, wie das D19, bis hin zu modernen Modeling-Dingern. Und Whammy Pedale! Die pitchen in Echtzeit das Material. Dadurch entsteht nochmal was komplett Neues. All das läuft in Pro Tools zusammen, das dient quasi als Bandmaschine, zum Arrangieren und später dann auch zum Mischen.

„Vocals lösen Emotionen binnen Sekunden aus, genauso aber auch eine Cello-Line“, sagst du. Erzähle uns mehr dazu.

Es ist dieses organische Element; das klingt anders, als wenn man Samples aus dem Computer mit am Keyboard spielt. Natürlich ist das alles subtil, aber mich reißt es einfach mehr mit. Der Raum spielt eine wichtige Rolle, das wird total unterschätzt. Deswegen bin ich auch so ein großer Fan von guten Mikrofonen, weil diese den Raum mitnehmen und der Aufnahme einen zusätzlichen Charakter verleihen.

Deine „Imperfect Moments“-Reihe dient genau dazu, spontane und menschliche Momente festzuhalten. Erzähle uns mehr zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Reihe.

Ich mache regelmäßig Klavierimprovisationen für mich alleine zu Hause, um zu üben und um Ideen zu testen. Manchmal waren da echt schöne Parts dabei, die ich in Songs weiterentwickeln wollte, aber als ich fertig war mit der Improvisation, konnte ich mich oft nicht mehr genau daran erinnern, was ich da eigentlich gespielt hatte. Deswegen habe ich, ganz simpel mit dem Telefon, die Sprachmemo-Funktion mitlaufen lassen. Später habe ich mir das dann angehört und dachte „so schlecht klingt das gar nicht“ – die ersten Veröffentlichungen der Reihe waren deswegen genau diese Telefon-Aufnahmen. Die Idee war mir wichtiger als die Aufnahmequalität; sie ist dem Moment, der Performance untergeordnet. Inzwischen gibt es dazu auch Remixe, u.a. von Christian Prommer und Adriatique. Zwei weitere von Nico von Kollektiv Turmstrasse und Martin aka Stimming kommen noch – da bin schon gespannt. Die Zukunft der Reihe ist noch ungewiss. Eigentlich habe ich das „Imperfect Moments“-Projekt gefühlt für mich abgeschlossen, aber ich möchte natürlich weiter improvisieren und klassische Veröffentlichungen haben.

In diesem Monat erscheint mit „Pictures“ ein sechs Titel starkes Release von dir. Führe uns bitte kurz durch die EP respektive die einzelnen Stücke.

„Currency“ ist ein Feature mit Kat Vinter. Der Track entstand schon vor vielen Jahren. Dieses Marimba ganz am Anfang ist damals aus einem Jam mit Christian Prommer bei mir im Studio entstanden, noch bevor es den eigentlichen Song gab. Ich habe dann später daraus das Instrumental entwickelt. Kat habe ich auf einer Songwriting-Session kennengelernt. Sie ist eine ganz tolle Songwriterin. Ich habe ihr Input zur Idee der Lyrics gegeben und sie hat die Topline geschrieben und gesungen. Als ich das von ihr bekommen habe, war ich einfach hin und weg. „No More“ war eine spontane Geschichte – ich war mit Fetsum im Studio, weil ich mit ihm „Winter in America” aufgenommen habe. „No More“ war eigentlich für einen anderen Sänger geplant, aber ich hab’s Fetsum gezeigt, er fand’s ziemlich gut, wir haben recordet und das war der Track.
„I Believe in You“ ist eher auf der Kopf- als auf der Bauchseite. Mehr Electronica, etwas experimenteller auch. Und ich habe hier selbst gesungen – natürlich nur ganz leise – kaum zu hören. Die Entstehungsgeschichte von „Higher Ground“ ist ziemlich interessant – ich beschäftige mich schon etwas länger mit dem Programmieren von Plug-ins oder kleineren Programmen. Bei dem Track haben wir zwei Klaviere. Auf dem einen spielen die Akkorde und auf dem andern kreiert das Plug-in daraus selbstständig eine Melodie. Ich musste allerdings drei bis vier Takes davon aufnehmen und mir die schönsten Stellen aussuchen. „Desire“ ist wieder etwas experimenteller und gehört für mich in dieselbe Kategorie wie „I Believe in You“ und „Wealth“. Fällt für mich eher unter “Klangwelten” und ist allgemein nicht so dancefloor-orientiert wie die anderen drei. „Wealth“ ebenso, sehr elektronisch mit wenigen akustischen Elementen, bis auf ein, zwei Drums.

Die Reihe ist eine renommierte Serie von Diynamic, du selbst gehörst schon seit Jahren zum Inner Circle des Labels.

In der Tat. Martin Stimming hat mich zu Diynamic gebracht. Wir hatten damals auf dem Stekker Festival einen gemeinsamen Gig als Duo. Wir sind da zunächst ziemlich locker rangegangen, aber als wir das Line-up gesehen hatten mit Matthew Johnson, Carl Craig, und mehr, kamen wir doch etwas ins Schwitzen. Die Sache endete total cool und seitdem sind wir gut befreundet. Wir kamen ins Reden, ich war mit meiner Agentur nicht so ganz zufrieden und er hat mir von seiner vorgeschwärmt. Ein bisschen später habe ich auf einem Event in Hamburg gespielt, auf dem auch Mladen nach mir gespielt hatte. Er hatte sich mein Set angehört, wir hatten uns gleich sehr gut verstanden – das war quasi mein Einstand. Seitdem hat sich alles toll entwickelt, und es fühlt sich gut an, weil wir, neben dem Musikalischen, auch sehr gut befreundet sind. Daher ist es schön, mit meiner „Picture“ jetzt schon das sechste Release auf Diynamic zu feiern.

Die Pandemie hat die Welt und damit auch die Musikwelt auf den Kopf gestellt. Dennoch hast du in den vergangenen Wochen und Monaten bereits wieder an spannenden Projekten gearbeitet, darunter das „Avantgarde Klassik Album“, aufgenommen in Berlin. Außerdem warst du mit deinem Trio ebenfalls im Studio. 

Korrekt. Und es sind beides so tolle Projekte. Das erste zusammen mit Christian Lillinger, Schlagzeuger aus Berlin, der sich in der Avantgarde-Szene einen Namen gemacht hat. Wir sind dabei, eine Soundästhetik für uns zu ergründen, eine neue Klangstilistik für Klassik- und Jazz-Sound, welche dann zum Teil auch auf seinem Label Plaist erscheint. Ich kenne mich gut aus mit Tonproduktion und habe ihn damals zu einem Projekt von mir eingeladen. Zwei Jahre später sind wir uns auf dem Stekker Festival wieder begegnet, mein Klang hat ihn und sein Spiel mich beeindruckt. Seitdem arbeiten wir gemeinsam an Klassik/Jazz-Projekten. Die Idee ist hier, entgegen der Jazz/Klassik-Aufnahme-Ideologie wie bei der Elektronik zu recorden, nur eben mit klassischen Musiker*innen. Das Ganze fand im ehrwürdigen Teldex Studio in Berlin statt – einem riesigen Saal, in dem wir ein Projekt von vorneherein so aufnehmen, um es dann später in Dolby Atmos zu veröffentlichen – und das klingt mega. Da spiele ich allerdings nicht selber, sondern produziere und arrangiere eher. Das Trio ist anders: Klare Musik, zwar auch entstanden aus Improvisationen, aber hier werde ich im Nachgang alles arrangieren. Hier war das Recording eher eine Art Sammlung von Ideen. Für das Trio hatten wir das tolle und ganz neue Brewery Studio in Berlin. Rhodes, Schlagzeug, Computer, zwei drei Synthesizer, eine Drummachine.

Für das kommende Jahr ist ein Projekt mit den Münchner Philharmonikern geplant.

In der Muffathalle wird ein Streichquartett, bestehend aus Musiker*innen der Philharmoniker, in einem Saal ein Konzert mit Stücken von u.a. Bartok performen. Gleichzeitig bekommen Christian Prommer und ich das in den zweiten Saal per Live-Feed in unsere Geräte und machen daraus live eine elektronische Re-Interpretation. Ein Live-Remix sozusagen. Bartok reassembled. Und die Gäste können sich zwischen den Räumen bewegen.

Ebenfalls in der Pipeline und sehr bald veröffentlicht wird die „Live & Love“-EP auf Siamese, dem Label von Adriatique. Wie sind die drei Stücke und vor allem die Kollaboration mit Luke entstanden? Wann genau ist Veröffentlichung?

Das Feature ist schon etwas länger her, ich glaube, drei Jahre in etwa. Ich hatte ein Instrumental fertig und es meinem Verlag Budde gezeigt. Die haben mir Luke gezeigt und ich fand ihn wunderbar. Im April 2022 wird die EP veröffentlicht. Bis dahin habe ich vereinzelt ein paar Auftritte, aber da ich die ganzen Projekte gerne fertigmachen möchte, bin ich so viel, wie es geht, im Studio. Ich liebe es, Zeit im Studio zu verbringen und mich kreativ auszutoben.

Aus dem FAZEmag 118/12.21
Text: Triple P
Credit: Nino Halm
instagram.com/johannesbrechtmusic