Nils Frahm – Momentum

„Ich schreibe nicht so gerne E-Mails. Das ist nicht mein Format“, sagt Pianist, Komponist und Produzent Nils Frahm; und so banal sie klingen mag, so vielsagend ist diese Aussage. „Ein Live-Interview ist improvisiert, ein geschriebenes komponiert. Ich improvisiere gerne.“

 

Unser Telefonat hat dann auch etwas von einem aus dem Zufall heraus aufkeimenden Plausch im Schnellzug, irgendwo auf der vom Wald gesäumten Strecke zwischen Wuppertal – das sich gerne „das kleine Berlin“ nennen lässt beziehungsweise nach einer einmaligen entsprechenden Titulierung unablässig mit diesem Attribut kokettiert – und dem „großen“, also dem echten Berlin. Die Sonne geht zu dieser Jahreszeit schon gegen halb fünf nachmittags unter, der Himmel färbt sich rot. Nils würde vielleicht gerade in seinem papiernen Kalender blättern und etwas notieren, handschriftlich. In seinem Handy finden sich keine Termineinträge. „Ich finde es schade, dass es für alles einen digitalen Fix gibt“, sagt er und ergänzt: „Klar, ich sehe die Notwendigkeit und auch den Nutzen bestimmter Anwendungen.“ Doch schöner, direkter, echter sei eben das Nichtdigitale. Dieses Haptische, sagt er, das möge er. Nils Frahm ist ein Grenzenwandler zwischen klassischer und elektronischer Musik. Live spielt er dann auch umtürmt von Instrumentarium und Gerätschaft – analog und digital.

Allein schon wegen der Masse an Material, das unterzubekommen ist, müsse der Begriff Raum ein zentrales Thema für den Musiker sein, könnte man meinen. Nils bezeichnet den Ort, den Raum, mit den Worten von Gerhard Steinke als „Kleid der Musik“*, den Raum als Begrenzung, die Reflexion schafft, den essenziellen Hall. In den Hall von Saal 3 im Funkhaus Nalepastraße, in dem der Rundfunk der DDR von 1956 bis 1990 seinen Sitz hatte, verliebt sich Nils, als er 2014 dort – für zehn Tage in dem geschichtsträchtigen Berliner Bau eingemietet – den Soundtrack zu Sebastian Schippers‘ vielbeachtetem Film „Victoria“ produziert. „Das Funkhaus ist fantastisch! Es bietet eine Ansammlung absolut interessanter, unterschiedlich klingender Räume. Ich war immer fasziniert von der Akustik. Ich kann hier als Künstler alles realisieren, was ich will, vom Orchester bis zum Hörspiel – oder wenn ich nicht weiß, was ich will, es finden. Die Räume haben etwas Inspirierendes, wie ein Instrument.“ Für seine Musik zu „Victoria“ erhielt Nils Frahm 2015 den Deutschen Filmpreis. Ein weiteres Jahr später, 2016, nannte der gebürtige Hamburger Saal 3 sein eigenes Studio, nachdem er den Raum mit Freunden aufwendig um- und ausgebaut und mit einem beachtlichen Fundus ausgestattet hatte. „Ich glaube, insbesondere durch meinen Beruf und mein akribisches berufliches ,Hörenmüssen‘ habe ich einen gewissen Anspruch, wie ich arbeiten und leben will und muss.“

Hier ist auch sein gefeiertes vorletztes Studioalbum „All Melody“ gewachsen. Nicht weit entfernt, im Großen Aufnahmesaal 1, haben die Stücke anschließend das Scheinwerferlicht erblickt. An vier Abenden hintereinander spielte Nils sie zum Auftakt seiner Album-Tournee. Dann folgten über 180 ausverkaufte Shows rund um den Globus. Ein Jahr später kehrte er mit vier weiteren Konzerten auf die Bühne im Funkhaus zurück. Die aus seiner Sicht stärksten Momente der Funkhaus-Konzerte hat Nils nun auf einem Live-Album versammelt, das am 3. Dezember erscheint, „Tripping with Nils Frahm“. „Die Chance, dass an einem Abend alle Stücke dieses eine Momentum haben, ist relativ gering. Es kommt auch immer auf ein bisschen Glück an.“ Perfektion sieht Nils dabei auch immer als Interpretationssache: „Vielleicht ist genau das Husten im Publikum das Perfekte in einem bestimmten Moment. Es muss sich zusammenfügen. Ich habe bis heute nicht verstanden, was ein gutes Konzert ausmacht“, lacht er. „Man kann tagsüber gestresst sein und es passt abends beim Konzert alles, man kann einen guten Tag haben und auf der Bühne passt es nicht. Es gibt keine Regel.“ Dieser latent fatalistischen, zufälligen Haltung stehen Frahms technische Akribie und Präzision gegenüber. Auf der Tour suchte das Team stets die Weiterentwicklung, wie er berichtet: „Die Tour war sehr lang, zwei Jahre. Aber wir hatten zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, zu überdrehen. Wir haben immer optimiert, auch produktionstechnisch, logistisch.“ Die größten Lerneffekte jedoch gebe es immer, wenn man es schwer hat. „Wenn man alle Möglichkeiten hat, kann das auch ein Manko sein. Wenn man kämpfen muss, überwindet man auch Grenzen. Die Jazz-Pianisten in den USA hatten nicht selten verstimmte Klaviere, erst dadurch kam es oft erst zu deren virtuosen Improvisation. Aber das sind so Schlaraffenlandprobleme, die mich betreffen“, schmunzelt er belustigt und verrät, wie es zu Studentenzeiten war: „Sachen umsetzen zu müssen, bei denen man nicht weiß, wie – so lernt man am meisten. Wie das so ist, man sagt einfach ,Ja, ja, klar, mache ich‘, und hat noch keine Ahnung. Man geht nach Hause und setzt sich in relativ kurzer Zeit auf den Hosenboden – dann macht man einen Sprung, dann gibt es den größten Fortschritt.“

Wären wir im Zug, hätten wir uns beide wieder unseren Tätigkeiten zugewandt, Schweigen nach höflicher Bemerkung zum Sonnenuntergang. „Eine Stille, die zu still ist, kann bedrückend sein. Dinge, die durchgehend Geräusche machen, empfinde ich ebenfalls als unangenehm. Stille ist unglaublich schön, aber nur im Wechsel. Wenn ein Vogel singt, Pause macht, wieder ansetzt, oder es im Wald raschelt und dann Ruhe ist, dann ist die Stille der Pause für mich wie ein Atmen. Die Stille ist die Interpunktion des Klangs. Die Stille ist das Yin, der Ton das Yang.“

*Gerhard Steinke ist ehemaliger Direktor für Audiotechnologie des RFZ (Rundfunk- und Fernsehtechnisches Zentralamt der Deutschen Post der DDR), er verbrachte einen Großteil seines Arbeitslebens im Funkhaus Berlin und kennt diesen Ort wie kaum ein anderer; zusammen mit Gisela Herzog hat er das Buch „Der Raum ist das Kleid der Musik“ geschrieben (245 Seiten, Hardcover, 205 Farbbilder/Diagramme; 150 Schwarzweißbilder, Kopie-Druck Adlershof, Berlin 2012, ISBN 978-3-9811396-8-6, 38 Euro).

 

 

 

Aus dem FAZEmag 106/12.2020
Text: Csilla Letay
Foto: Leiter Verlag
www.nilsfrahm.com