Orchestral Tools “Habitat” by Dominik Eulberg – Der Signature-Sound von Mutter Natur

 

Die Beschreibung lautet: Ein Habitat ist ein durch spezifische abiotische und biotische Faktoren bestimmter Lebensraum, an dem eine Organismen-Art in einem der Stadien ihres Lebenskreislaufs zu Hause ist. Frage: Nach welchem Protagonisten der elektronischen Musikszene wird hier gesucht?
Die Antwort ist natürlich der sympathische Buchautor, Naturbeobachter, Künstler und Musiker Dominik Eulberg. Um Plattitüden zu bemühen, klammere ich mich hier gerne weiter an Genre-Begriffe wie “Öko-Techno” und Tracknamen wie “Hühnergott”, „Schwarzhalstaucher“ oder „Sechlinien-Bodeneule”.

Ehrlich gesagt sind die Eulbergschen Klanggefilde wirklich etwas sehr Besonderes: In der Anfangszeit um das Jahr 2004 herum bestechen seine ersten releasten Tracks auf Traumschallplatten mit einer sehr emotionalen Version von Minimal-Techno: “Die Rotbauchunken vom Tegernsee” oder „Blüten sind dem großen Schillerfalter fremd” klingen wie ein elektronischer Vogelschwarm. Sehr synthetisch, manchmal noch für heutige Zeiten etwas cheap, doch unglaublich knisternd, lebendig und detailliert. Von da an geht die Reise immer mehr in Richtung sphärische, organische und an die Natur angelehnte Klänge, die ihresgleichen suchen. Ob als Dancefloor-Banger wie “Hühnergott” oder eben als preisgekrönter Score für Naturdokus wie “Magisches Island” oder “Heimat Natur” von Regisseur Jan Haft. Auf diesen komme ich später noch einmal zurück.

Für mich beginnt in wenigen Minuten ein Skype-Call mit Jan Lepold, seines Zeichens Head of Content Production von Orchestral Tools. Unter den Herstellern von cineastischen Sample-Libraries ist Orchestral Tools so etwas wie der Riesen-Seeadler, wenn man denn in Eulbergs Flora und Fauna bleiben möchte: Ihre Libraries versorgen die erste Reihe von Hollywoods Komponist*innen und Sounddesigner*innen mit hochwertigstem orchestralem Klangmaterial. Das führt erstens dazu, dass wir fast in jedem Trailer, jedem Kinofilm und jeder Serie mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Klängen aus der Berlin-Freiburger Software-Schmiede konfrontiert werden. Und zweitens, dass legendäre Producer wie Junkie XL, der Filme wie „Mad Max“, „Terminator“ oder „Deadpool“ vertont hat, Lust haben, eigene Libraries mit OT zu realisieren. In letzter Zeit war man hier auch auf der Suche nach experimentelleren Libraries, wodurch zum einen die Creative Soundpacks, zum anderen folgende Idee zustande kam: Durch das jahrelange Hören von Eulbergs Diskografie kam Jan Lepold irgendwann im Laufe des letzten Jahres auf Idee, ihn anzuschreiben und zu fragen: „Hast du Lust, mit uns eine Library zu kreieren?”

Dominik sagte ja, obviously. Das Konzept der Library:
Wie klingt ein bestimmter Ort zu einer bestimmten Jahreszeit zu welcher Tageszeit?
Die Orte – oder eher die Habitate – waren typischerweise Wald, Ozeane, Moore, Berge und viele mehr. Mit dieser Überlegung als Inspiration ging Eulberg ins Studio und legte den elektronischen Anteil der Library vor, indem er sich z.B. folgendes Setting vorstellte: Wie klingt ein Synthesizer in einer Sommernacht hoch oben auf einem Berg?
Gear-Nerds sollten hier kurz mal genauer hinhören: „Ich habe die elektronischen Sounds bei mir im Studio aufgenommen. Für den Dry-Channel der Library kamen eigentlich alle meine Synthesizer zum Einsatz, da jeder einen anderen Charakter hat: Jupiter 8, Moog One, MacBeth Elements, OB-Xa, Prophet 5, Deckards Dream, GRP A4 oder auch der Studio Electronics Omega 8. Für den FX-Channel habe ich jeweils interessante Ketten gebaut, bei dem Multi-Effektgeräte wie etwa der Eventide H8000, Bricasti M7 oder ein TC 2290 zum Einsatz kamen.“

Kleines Schmankerl nebenbei: Alleine Dominiks GRP-A4-Synthesizer kostet 5.500 Euro und ist zudem als Hardware nur monophon. In der „Habitat“-Library ist es nun erstmals möglich, ihn polyphon zu spielen.
Für die Patches in „Habitat“ schichtet Dominik seine Synthesizer so kunstvoll übereinander, wie man es aus seinen Tracks gewohnt ist. Heraus kommt ein elektronisches Soundbild, bestehend aus versatilen Pads, brodelnden Bässen und wirbelnden Sequenzen.

„Die Sounds habe ich danach alle noch fein säuberlich processt, so wie ich es auch bei meinen  Produktionen machen würde, wo so etwas immer viel Zeit frisst: Sinnvolles De-noising mit einem Multiband-Compressor als Expander. Sinnvolle Low-Cuts ebenfalls mit einem Multiband-Compressor als Expander, um unnötiges Tiefbass-Gerumpel etwa durch Reverbs zu entfernen. De-essing bei so manchem scharfen Sound. Herausfiltern von unschönen und ungewollten Resonanzen mit einem dynamischen EQ und natürlich das Eingliedern der Einzelsounds in ein sinnvolles Stereobild. Alleine dies ist schon sehr, sehr nützlich als Produzent, denn man hat direkt einen absolut reinen High-End-Sound ohne viel Arbeit.”

Nach dieser Vorlage war es nun an der Zeit für die Sounddesigner*innen, Komponist*innen und Toningenieur*innen von Orchestral Tools, das maßgeschneiderte orchestral-akustische Pendant dazu zu finden. Ausgesuchte akustische Instrumente, weit weg von den gewohnten Streicher-Sounds, stehen hier im Fokus. Damit sind wir schnell bei einem feinen, atmenden, aber auch modernen Soundbild. Beim Aufnehmen von professionellen Musiker*innen für Sample-Libraries kann man dabei zwei Wege gehen: Entweder man nimmt jede Musiker*in sauber und einzeln auf. Oder man setzt auf das Zusammenspiel der Musiker*innen untereinander, deren Interaktionen laut den Machern von „Habitat“ ein wichtiger Faktor für die besondere Textur der Aufnahmen sind.

Die dritte und letzte Zutat für die Library waren dann die Fieldrecordings. Diese stammen größtenteils von dem oben erwähnten Dokumentarfilmer Jan Haft, der ein offenes Ohr für Klangatmosphären während seiner Reisen in der Natur entwickelt hat. Hier sind oft sehr leise, oft unbemerkte Elemente der natürlichen Klanglandschaft zu hören, die man in der typischen Klangverschmutzung der Stadt lange nicht mehr gehört hat. Stille bedeutet in diesem Fall, dass Klänge an die Oberfläche kommen, die sonst von lauteren Dingen maskiert werden.

Der gesamte Prozess der Realisierung von „Habitat“ erstreckte sich am Ende über ein ganzes Jahr. Am Ende sagt Dominik Eulberg: „Es geht bei der Library darum, dass Mutter Natur die größte Künstlerin von allen für mich ist, und darum, das Gefühl, das man zu einer gewissen Tages- und Jahreszeit in einem bestimmten Habitat hat, greifbar zu machen. Diese Schwingung, die man dort hat, kann man eben am besten darstellen und abbilden, wenn man eine möglichst große Klangpalette hat, ähnlich wie wenn Maler*innen ein Bild malen. Schon seit jeher versuche ich, mich von diesen klanglichen ,Grenzkasteiungen‘ zu distanzieren. Warum macht man nur und ausschließlich mit klassischen Musikinstrumenten oder nur mit elektronischen Klangerzeugern Musik? Kombiniert man sie, bekommt man eine äußerst aparte Melange, die sehr stark trägt und Emotionen transportiert.”

Nun habe ich endlich das Vergnügen, die erste Beta in meinem Studio zu testen. Das Ganze funktioniert in Orchestral Tools‘ eigenem Sine-Player, der als für Profi-Komponisten spezialisiertes Äquivalent zu Kontakt fungiert. Statt wie üblich zwischen verschiedenen Instrumenten zu wählen, entscheide ich mich hier zwischen verschiedenen Habitaten: Lake, Ocean, Forest, Pond, Stream, Mountains, Heathland, Meadow, Wetland und Coast.
Innerhalb dieser Habitate kann ich mich dann wiederum entscheiden, ob ich mich im Frühling, Sommer, Herbst oder Winter und am Tag oder in der Nacht befinden möchte.
Per Keyswitch kann man zwischen den Jahreszeiten, die hier oft wie verschiedene Artikulationen fungieren, wechseln. Zunächst höre ich nur die akustischen Intonationen. Wenn ich nun das Modwheel nach oben regle, blenden sich langsam Eulbergs Synthesizer-Kaskaden ein, bis sie am Ende das Soundbild alleine dominieren.
Der Klang der Library könnte genau so, wie er ist, aus einem Eulberg-Track entsprungen sein. Es ist, als hätte man seine Signature-Sounds in den eigenen Händen. Und auch das Habitat-Konzept geht auf: Der Fluss am Sommer fließt spielerisch, freudig und verheißungsvoll. Das Wetland unkt melancholisch und geheimnisvoll im Herbst. Die Berge schimmern glitzernd hell im Winter.
Die Patches kann man, so wie sie sind, nehmen und in eine Natur-Doku stecken. Doch wer hier etwas weiter denkt, erkennt die Chancen, diese Klangästhetik in elektronische Musik einzubauen.
Ein ganzer Kosmos an organischen, mäandernden und bezaubernden Farben macht sich auf. Meistens sind es vielschichtige Flächen, doch tiefe Bässe, hüpfende Arpeggios und rauschende Sequenzen haben ebenfalls einen Anteil an der Palette. Man merkt wahrscheinlich allein an meinem momentanen Schreibstil, dass „Habitat“ das Zeug zur Inspirationsquelle hat.

Am Ende habe ich noch zwei Fragen an Dominik Eulberg:

Welche Rolle spielen in deiner Musikproduktion Sample-Libraries, wie du sie nun selbst erstellt hast?  

Ich habe schon immer auch Akustik-Sounds aus Libraries verwendet, die nochmal eine andere Klangtiefe ergeben, als wenn man nur Synthesizer benutzt. Natürlich keine klassischen, sehr generischen Sounds wie etwa eine Geige oder Ähnliches, sondern ungewöhnlichere Klänge, wie bestimmte Bells oder eine Sansula zum Beispiel. Hier habe ich häufig Sounds aus Omnisphere, aber auch schon von Orchestral Tools verwendet. Ich war schon immer Fan von ihrem rohen, reinen und so authentischen Klang-Duktus. Diese Sounds kann man später so wunderbar verfremden, weil sie so natürlich sind, wie Rohdiamanten, die man zu echten Schmuckstücken schleifen und polieren kann.

Können wir „Habitat“ denn bereits in deinen neuesten Tracks hören?

Nein, die Sounds, die wir in der Library nun haben, sind ja alle ganz frisch und extra dafür von mir in wochenlanger Arbeit aufgenommen worden. Ich werde sie aber ab sofort ständig benutzen, da es so etwas einfach noch nicht gibt und einem die Library so viel Zeit erspart. Ich habe ja schon Synthesizer-Klänge durch Stacking gebaut, die es so einfach nicht aus einem Synthesizer gibt, wodurch ein ungewöhnlicher mehrdimensionaler Sound emergiert. Außerdem sind nun monophone Synths wie der GRP A4 plötzlich polyphon spielbar, was schon alleine total crazy für mich ist. Die Melange dann noch mit den akustischen Instrumenten macht die Library einfach unfassbar inspirierend. Man spielt einen Sound, und schon fallen einem automatisch so viele Ideen ein, weil man sich um sonst nichts mehr Gedanken machen muss. Die Leute von Orchestral Tools haben mit so viel Verstand, Gespür und Sinnhaftigkeit zu meinen Synthesizer-Sounds akustische Klänge konzipiert und aufgenommen, die eine total runde Sache im Ganzen ergeben. Man kann beim Spielen gar nicht mehr zuordnen, ob das jetzt ein akustisches Instrument oder ein Synthesizer ist. Dieses Gefühl bietet Raum für ganz viele Freiheiten.

Aus dem FAZEmag 121/03.2022
Text: Bastian Gies
Foto: Natalia Luzenko
www.orchestraltools.com/store/collections/habitat

 

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