„Ich weiß gar nicht, warum mich immer alle für so einen steifen, trockenen Typen halten. Ich bin doch sehr lustig“, sagt er und streicht den Kragen seines weißen Hemdes glatt. Paul van Dyk steht vor dem Fenster der Tower Suite des Sheraton Hotels am Amsterdamer Flughafen. Die Wolken hängen tief an diesem Freitagnachmittag und trüben den Blick auf die im Minutentakt startenden Flugzeuge. Pauls Feststellung mag stimmen, und hierfür gibt es ganz unterschiedliche Gründe. Da ist zum Beispiel seine Skandalfreiheit, die ihn mehr wie einen Geschäftsmann als einen Partyhengst wirken lässt. Seine langjährige Ehefrau Natascha ist häufig an seiner Seite, Affären mit Ein-Euro-Groupies gibt es nicht. Auch keine mehr oder minder lustigen Ketamin-Geschichten. Ebenso wenig Totalausfälle auf der Bühne inklusive sinn- und klamottenloser Mikrofonbeiträge, festgehalten in Bild und Ton für die YouTube-Nachwelt. Während anderswo Maßlosigkeit und ausuferndes Feierverhalten das Leben und die Karriere bestimmen, sind es bei Paul van Dyk Tugenden wie Fleiß und Disziplin. Etwas, das in der hedonistischen Gesellschaft von heute gern als Steifheit fehlinterpretiert wird.
Dabei hat Paul gelernt, was es heißt, für seinen Traum zu kämpfen. Er hat gelernt, dass Fleiß und Disziplin wichtige Bestandteile des großen Ganzen sind. Als er Ende der 80er-Jahre seiner Heimat Eisenhüttenstadt den Rücken kehrte und nach Berlin ging, um Musik zu machen, gab es zwei Möglichkeiten. Entweder versackte man in der Aufbruchstimmung dieser Zeit im Getümmel der Großstadt, oder man setzte sich auf den Hosenboden und arbeitete daran, sein Ziel zu erreichen. Paul entschied sich für Letzteres, und der Erfolg gibt ihm Recht. Er ist der musikalische Exportschlager Deutschlands. Klingt sein Name auch mehr nach dem eines alten holländischen Meisters, so hat er für das Ansehen unseres Landes weltweit doch mehr getan als mancher Politiker der jüngeren Vergangenheit. Und so begegnet man Paul van Dyk beinahe genauso häufig beim Einschalten diverser Talkshows zu sozialpolitischen Themen wie im Club selbst. Er hat musikalisch wie zu vielem anderen einen unumstößlichen Standpunkt und ist immer bereit, diesen zu vertreten. Diese Einstellung brachte ihm nicht nur eine Grammy-Nominierung für sein 2005er Album „Reflections“ ein, sondern ein Jahr später auch den Verdienstorden des Landes Berlin. Und sie brachte ihm weltweit Fans, die ihn für seine Musik, aber eben auch für seine Persönlichkeit schätzen. Dafür, dass er mit der Zeit geht, aus jeder Entwicklung seine eigenen Schlüsse zieht und sie gewinnbringend einsetzt. Paul van Dyk muss heute niemandem mehr etwas beweisen, und er ist keiner der ewigen Vinyl- und „Früher war alles besser“-Verfechter. Lieber setzt er auf modernste Technik, die ihm bei der Produktion seines sechsten, am 6. April erscheinenden Albums mal wieder völlig neue Möglichkeiten eröffnete. Etwas, das sich im Titel „Evolution“ niederschlägt. „Wenn man sich anschaut, was in den letzten 20 Jahren für eine unglaubliche Entwicklung stattgefunden hat – allein in der Technologie. Früher gab es nicht mal iTunes, Beatport oder Facebook. Auch die Art und Weise, wie wir heute kommunizieren, ist eine völlig andere. Das gilt ebenso für die Musik, die Ende der 80er als kleine Subkultur startete. Heute freuen sich die Leute auf der ganzen Welt über elektronische Musik und sind dabei. Das wollte ich mit ‚Evolution‘ reflektieren. Für mich hat das aber nicht den Darwin’schen Anstrich, auch wenn ich eher der Evolutionstheoretiker bin …“ Dennoch ist „Evolution“ kein Konzeptalbum geworden, das die Entwicklung der musikalischen Menschheitsgeschichte an allen Ecken und Enden transportiert. Vielmehr versteht sich die Idee als roter Faden. „Der Titel spiegelt sich für in der Gesamtheit des Albums wider, denn jeder einzelne Track ist Teil der Evolution, die elektronische Musik genommen hat. Dann meine eigene Entwicklung – als Person und als Künstler. Und wenn man sich anschaut, wie die Songs des Albums entstanden sind, hat es auch mit einer technologischen Evolution zu tun. Die Möglichkeit, den Kompositionsprozess mit auf die Bühne zu nehmen und vor den Leuten zu checken, wie die Hook am besten kommt …“ Paul hat sich zu Produktionsbeginn ein Studio-Set-Up zusammengestellt, das er so mit in die Clubs nahm. Keyboards und Effektgeräte machten es ihm möglich, beinahe jedes neue Element in einen Track einzubauen und live vor Publikum zu testen. „Die Reaktionen der Leute haben mir gezeigt, welche Richtung ein Track nehmen sollte.“ Die Grenzen zwischen Club und Studio verwischen so mehr und mehr. „Ich habe die Möglichkeit, etwas zu spielen und es gleichzeitig aufzunehmen und zu loopen. So ist die Piano-Line beim Opener ‚Symmetries‘ entstanden. Und die Hook habe ich dann auf der nächsten Ebene live dazu eingehämmert. Das ist schon wesentlich aufwendiger als eine CD in die nächste zu mixen. Es hat für mich etwas mit Evolution von elektronischer Musik zu tun. Grenzen zu durchbrechen, sei es im kreativen Bereich oder auf technologischer Ebene, war immer ein Teil dessen.“
Auch Kollaborationen gehören bei Paul van Dyk zum Produktionsgeschäft. Hierbei setzt er nicht auf schlichtes Namedropping, sondern hat gewisse Ansprüche an seine Studiopartner. Im Falle von „Evolution“ sind es u.a. Austin Leeds, Sue McLaren, Arty, Adam Young, Johnny McDaid oder Michelle Leonard. Die noch berühmtesten Gäste sind Gustaf Norén und Björn Dixgård von der schwedischen Rockformation Mando Diao, die sich aktuell mit ihrem Side-Projekt Caligola im Stil der kitschig glitzernden Disco-70er austoben. Zwischenmenschlich muss es stimmen, dann ist musikalisch alles drin. „Die gemeinsame Ebene sollte über die Abrechnungsmodalitäten hinaus gehen. Deswegen glaube ich auch nicht an diese von Managern über Marketingkonzepte zusammengeführten Projekte. Das ist nicht mein Ding. Ich muss mit jemandem zusammenarbeiten, der den Entwicklungsprozess eines Tracks mit macht und nicht einfach nur ein Vocal abliefert und eine Rechnung schickt.“ Es ist den technologischen Entwicklungen unserer Zeit zu verdanken, dass so auch Songs über Tausende von Kilometern entstehen konnten. Da sitzt der eine – Paul – in seinem eingeschneiten Studio in Berlin, während der andere – Austin Leeds – seinen Part aus dem sonnigen Miami herüber schickt. Ein Vorteil, sicherlich. Doch birgt der Fortschritt nicht auch Gefahren und Mängel? Eine Ambivalenz? „Wir haben heutzutage dank all dieser Entwicklungen weitaus mehr Quantität als Qualität. Dennoch gibt es nach wie vor so viele fantastische, geile Sachen, dass es immer wieder Spaß macht, neue Musik zu entdecken. Die Leute nehmen Musik heute einfach anders auf, konsumieren sie anders, und man muss versuchen, dem gerecht zu werden. Wenn sie eben nur einen Track und nicht das ganze Album toll finden, kann ich es auch nicht ändern.“ Der veränderten Rezeption von Musik wird Paul u.a. gerecht, in dem er dieses Mal auf das Mixen der Albumtracks verzichtet hat. „Ich würde mir als Künstler natürlich wünschen, dass die Leute auch den anderen Tracks des Albums Zeit geben. Den Tracks, die nicht gleich die erste klatschige Hook haben, sondern die erst beim zweiten oder dritten Mal kommen … Ich kann nur an die Leute appellieren, sich wieder mehr um Musik zu kümmern, sie richtig zu hören, als sie nur als Moment zur akustischen Befriedigung zu sehen.“
Von der trackorientierten MP3-Geschellschaft landet man recht schnell beim nächsten Problem der Digitalisierung: Urheberrecht und illegale Downloads, Streamingdienste & Co. „Die CEOs, die Ende der 90er bei den großen Plattenfirmen saßen, haben es gründlich verkackt. Der größte Musikretailer ist heute ein Computerhersteller. Beatport wurde von drei Ravern aus Denver gegründet. Nichts davon kommt also aus der Musikbranche.“ Gerade ist in Deutschland Spotify gestartet, ein Streamingdienst, den es in den USA schon seit geraumer Zeit gibt. Die Zahlen dort belegen, dass er die Musikkäufe nicht negativ beeinflusst hat. „Diese Streamingdienste sind eine Art Bezahlradio, nur dass du selbst entscheidest, was du hörst. Und sie haben den großen Vorteil, dass du durch die Empfehlungselemente ganz viel neue Musik entdeckst. So kommst du relativ schnell auf Sachen, die du vorher noch nie gehört hast. Das finde ich spannend. Ich finde es schon gut, auf meinem iPod meine eigene Library zu haben und dafür nicht ständig online sein zu müssen. Ich sehe das eher positiv, als eine Ergänzung, nicht als Ersatz.“ Durch monatliche Beiträge kassiert die GEMA entsprechend Gebühren, um sie an die Künstler abzuführen. „Ich glaube nicht, dass die GEMA aufgrund ihrer Strukturen wirklich im Sinne der Künstler handelt. Das liegt auch am Alter der Entscheider bei der GEMA und dem daraus resultierenden Nichtverständniss der veränderten Marktsituation. Wenn ich mir allein die Veranstaltungsverteilerschlüssel angucke. Jeder Club, jedes Event zahlt an die GEMA Geld dafür, dass dort Musik gespielt werden darf. Jetzt stell dir vor, du bist eine kleine Newcomerband, spielst in einem Club vor 400 Leuten. Der Club ist voll, der Veranstalter zahlt an die GEMA Geld. Wenn du als Newcomer zu diesem Zeitpunkt aber noch keine Platte gemacht hast und kein GEMA-Mitglied bist, kriegst du von dem Geld gar nichts. Aber gerade als Anfänger brauchst du doch genau das, um ins Studio gehen zu können. Da gibt es so viele Dinge, die an der realen Welt komplett vorbei laufen. Das sind für mich Besitzstandswahrer, die es einfach nicht kapieren. Ich bin nicht der größte Freund dieser Vereinigung.“ Was uns zum Thema ACTA führt, denn auch hier vertritt Paul einen deutlichen Standpunkt. „Die Leute, die für ‚Stop ACTA‘ auf die Straße gehen, haben offenbar gar keine Ahnung. ACTA ist in Deutschland geltendes Recht. Dieses Recht soll europäisiert wird. Das heißt, dass es nicht mehr irgendwelche illegalen Server in Russland oder sonst wo geben kann. Es gibt nun mal eine ganze Menge kriminelle Energie, und die macht sehr viel kaputt. Deswegen muss es gewisse Regulierungen geben. Klar, man kann alles verbessern. ACTA ist nicht perfekt, daran muss man weiter arbeiten. Aber es ist immer noch besser, als den illegalen Raum völlig unkontrolliert machen zu lassen. Wir reden immer vom illegalen Download von Musik und Filmen. Aber bei ACTA geht es ja vorrangig um Datenklau, das vergessen die Leute ganz schnell.“ Zu den wohl positiven Seiten des digitalen Zeitalters gehört, dass Informationen jeglicher Art immer und überall verfügbar sind. So ist auch ein Künstler wie Paul, der ständig von einem Flieger in den nächsten stolpert, um wieder einmal den Kontinent zu wechseln, stets auf dem Laufenden über das, was in seiner Heimat vor sich geht. „Es gibt tolle Dienste, die dir direkt eine Push-Benachrichtigung schicken, sobald etwas passiert ist. Ich wusste also trotz Auslandsaufenthalt über jede Verfehlung vom Wulff Bescheid. Genauso kriege ich mit, dass sich die FDP selbst demontiert und aus Landtagen freiwillig abwählen lässt. Ich glaube, da passiert gerade ein ganze Menge. Aber auch hier würde ich mir mehr Pragmatismus und weniger Ideologie wünschen. Wenn ich mir Frau Merkel und ihre Truppe angucke … die schauen sich an, wie es so ist und warten dann mal ab, was kommt. Die haben keinen Vorschlag, keinen Entwurf. Frau Merkel wird wegen der Finanzkrisenbewältigung so gehypt, dabei hat sie nichts weiter gemacht, als einen Tag später zu verkünden, was gerade schon passiert war. Sie hat doch immer nur im Nachhinein legitimiert. Zugute halten kann man ihr maximal, dass sie in dem ganzen Stress keine irrationale Entscheidungen getroffen hat, weil sie eben gar keine getroffen hat. Und dass wir noch Wirtschaftsunternehmen in Deutschland haben, seit der Rösler Wirtschaftsminister ist, halte ich für eine große Leistung der Unternehmen. Wir werden gerade furchtbar schlecht regiert von Leuten, die es nicht können. Wir haben keine Identifikationsfiguren mehr, weil du den Leuten nicht abnimmst, das sie wissen, was sie tun.“
Wo die Regierung versagt, kann der einzelne einspringen, und so unterstützt Paul seit vielen Jahren die Organisation „Rückenwind“. Diese fördert Berliner Kinder, die von Armut betroffen sind, um ihnen gleichwertige Chancen auf Bildung und gesunde Entwicklung zu ermöglichen. Selbst hat Paul mit seiner Frau Natascha zwar zwei Beagle, Kinder aber nicht. Eine bislang bewusste, aber keine endgültige Entscheidung. „Wir arbeiten mit ‚Rückenwind‘ viel mit Kindern, die von ihren Eltern vernachlässigt werden. Das kommt für mich überhaupt nicht in Frage. Natascha ist ein echter Wirbelwind und hat noch so viel vor. Und auch ich habe noch viele Ideen im Kopf und Dinge, die ich gern tun möchte. Zum jetzigen Zeitpunkt wäre es dem Kind gegenüber unfair. Ich würde in der Sekunde, in der ich erfahre, dass ich Vater werde, aber massiv zurückschalten. Ich wäre da. Das ist für mich ein ganz wichtiger Punkt. Es ist also kein Thema, das wir strategisch planen. Aber ich kann garantieren, dass es irgendwann mal passieren wird – eben in dem Moment, in dem es für uns richtig ist.“ Konkreter wird ein Paul van Dyk zu Themen wie diesem eher selten, denn die Trennung von Job und Privatem hat oberste Priorität. Twitter- oder Facebook-Einträge, in denen er über persönliche Befindlichkeiten referiert, sucht man vergebens. Warum das so ist, erklärt er sich und mir so: „Ich habe Musik im Osten nur übers Radio kommuniziert bekommen. Ich wusste nie, wie die Leute dahinter aussehen, ob die einen Hund haben oder sonst was. Und deswegen ist mir das bis heute total egal. Ich weiß nicht, warum es für jemanden interessant sein sollte, ob ich gerade Pasta esse oder ein Steak. Das Private ist ja aus einem guten Grund privat. Ich finde es schon gut, dass wir noch ungestört einkaufen gehen können.“ Zeit ist hierfür allerdings kaum, denn die bereits seit Monaten laufende „Evolution“-Welttournee setzt sich auch in den nächsten Wochen weiter fort und lässt Paul weiterhin um die Welt jetten.