Ryuichi Sakamoto – Der wahre letzte Kaiser

Foto: Zakkubalan

Da ist sie wieder: Die japanische Komponisten-Legende Ryuichi Sakamoto. Nachdem Anfang Dezember mit „A Tribute To Ryuichi Sakamoto: To The Moon And Back“ eine Sammlung von Songs aus seinem umfangreichen Schaffen – allesamt neu überarbeitet von langjährigen Weggefährt*innen Sakamotos – erschienen war, legte er zuletzt wieder selbst Hand an und schickt mit „12“ sein erstes Soloalbum seit sechs Jahren ins Rennen. Die LP ist, wie er selbst sagt, von einer tagebuchartigen Struktur geprägt, die seinen nachhaltigen Kampf gegen eine Kehlkopfkrebs-Erkrankung nachzeichnet. Trotz kräftezehrender, komplexer Operationen hat der Grammy-, Oscar- und Golden-Globe-Gewinner offenbar neuen Mut getankt und lässt seinen elektronisch-akustischen Genre-Überschreitungen wieder freien Lauf. Wir nutzen die Gunst der Stunde und werfen einen Blick auf sein neuestes Werk und seine bahnbrechende Karriere.

Obwohl uns Ryuichi Sakamoto aufgrund seiner Erkrankung leider nicht für ein Interview zur Verfügung stand, konnten wir den ein oder anderen O-Ton zum Album sammeln. So erklärte er einst im Vorfeld zur Produktion von „12“: „Nachdem ich nach einer großen Operation endlich in meine neue vorübergehende Unterkunft ,heimgekommen‘ war, griff ich zum Synthesizer. Ich hatte nicht die Absicht, etwas zu komponieren; ich wollte einfach nur von Klängen überflutet werden. Wahrscheinlich werde ich diese Art von ,Tagebuch‘ auch weiterhin führen.“

Gesagt, getan. Zwölf kleine Song-Skizzen sind in den vergangenen zweieinhalb Jahren entstanden, die Sakamoto nun in zwölf ausproduzierte Soundscapes verwandelt hat und die er am 17. Januar, dem Tag seines 71. Geburtstags, in der großen weiten Musikwelt aussetzen wird. Jene Musikwelt, die er bereits seit vielen, vielen Jahren mit seinen fantastischen Stilgrenzen auslotenden Werken verzaubert. Von Jazz und Elektronik, bis hin zu Neo-Klassik und (Avantgarde-)Pop: Sakamoto bewegte sich schon immer zwischen den verschiedensten Genres und meisterte dabei jede Herausforderung, die sich ihm bot.

Unvergessen bleiben auch seine zahlreichen Ausflüge in die Filmmusik, die ihm mehrere Golden Globes (u.a. für „Himmel über der Wüste“) und sogar einen Oscar (für „Der letzte Kaiser“) bescherten. Zuletzt zeigte er sich außerdem für den Score der neuen Netflix-Sci-Fi-Serie „Exception“ verantwortlich. Sein letztes wirklich großes Ausrufezeichen auf der Leinwand setzte der bekennende Umweltaktivist allerdings im Jahre 2015 im Rahmen des Historien-Western-Meisterwerks „The Revenant“, für den wiederum Leonardo DiCaprio seinen ersten Oscar erhielt. Sakamoto hatte in Zusammenarbeit mit seinem langjährigen Weggefährten Carsten Nicolai alias Alva Noto die Komposition des gewaltigen Soundtracks vorgenommen, konnte aufgrund der Krebstherapie aber nicht mit voller Kraft mitwirken. Was Carsten Nicolai über die Kooperation mit Ryuichi Sakamoto zu sagen hat, könnt ihr in der Dezember-Ausgabe vergangenen Jahres lesen.

Umso erfreulicher ist es nun, dass sich der (noch) 70-Jährige wieder ins Studio gewagt hat und darüber hinaus nach zwei Jahren Pause erstmals wieder live auf der Bühne auftrat. Am 11. Dezember hat Sakamoto ein einstündiges exklusives Online-Solo-Klavierkonzert gegeben, das im legendären 509 Studio in Tokio aufgenommen wurde, und im Rahmen dessen er unter anderem Stücke aus dem neuen Album „12“ gespielt hat.

„Mir gefällt das Konzept, das Ungreifbare greifbar zu machen. Man sagt, dass wir durch Musik berührt werden. Ich glaube fest an die sinnliche Kraft der Musik, die in uns Emotionen hervorruft.“ – Ryuichi Sakamoto

Für „12“ setzte sich Sakamoto wieder an seine Synthesizer und Pianos, um uns eine tosende Sammlung atemberaubender Klanglandschaften zu präsentieren, die sich nur schwer kategorisieren lassen. Selbiges merkte vor Kurzem in einem Interview auch der renommierte Komponist Alan Menken, bekannt für seine Broadway-Musicals und Disney-Filme, an und erklärte: „Er lässt sich nicht kategorisieren, weil er so viele verschiedene Genres umfasst. Er ist ein Meister darin, überzeugende musikalische Motive einzuführen und sie auf kraftvolle und originelle Weise weiterzuentwickeln, wobei er den Zuhörer sowohl emotional als auch intellektuell fesselt. Im einen Moment gibt es Impressionismus, im nächsten Rock, Jazz, Klassik oder meditative New-Age-Elemente. Er mischt tonale und atonale, symphonische und elektronische, westliche und östliche Elemente nahtlos miteinander. Er ist ein geniales Chamäleon, dessen Werk immer gefühlvoll und spirituell zugleich ist.“

Besser könnte man den Spirit des Meisters, der sich für den Atomausstieg Japans ausspricht, wohl nicht beschreiben. Ohnehin ist Sakamoto nicht nur für seine monumentalen Werke, sondern auch für sein gesellschaftliches Engagement bekannt. Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima im Jahre 2011 trat der Multiinstrumentalist als prominente Unterstützung der Kampagne „Sayōnara Genpatsu Senmannin Akushon“ („Tschüss Atomkraft – 10.000.000-Menschen-Aktion“) in Erscheinung, die zu Demonstrationen und einer Unterschriftensammlung für den besagten atomaren Ausstieg aufrief. Es folgten diverse Benefizkonzerte für die Opfer des Unglücks sowie eine Beteiligung an Protesten gegen die Einführung eines neuen Sicherheitsgesetzes zur kollektiven Selbstverteidigung im Jahr 2015. Sakamoto ist außerdem im Umweltschutz aktiv und setzt sich für den Weltfrieden ein.

„Ich hoffe, dass ich das perfekte Album, mein Meisterwerk aufnehmen kann, bevor ich sterbe. Das ist mein sehnlichster Wunsch und ich arbeite daran.“ Dies hatte Sakamoto einst 2016 – offenbar im Hinblick auf einen möglicherweise kurz bevorstehenden Krebstod – gegenüber der South China Morning Post in Bezug auf das Album „Asyc“ gesagt. Dass sein Wunsch dank „12“ nun ein zweites Mal in Erfüllung geht, hätte er wohl nicht gedacht.

„12“ erscheint am 17. Januar via Milan Records.

Drei bahnbrechende Produktionen von Ryuichi Sakamoto 

Yellow Magic Orchestra – Behind The Mask (1979)

Als Mittzwanziger und Teil der einflussreichen japanischen Elektropop-Band Yellow Magic Orchestra, die in Asien ungefähr das Renommee wie Kraftwerk in Europa besitzt, feiert Sakamoto große Erfolge. Die Lyrics des Songs sollten einst in abgeänderter Form auf Michael Jacksons Album „Thriller“ erscheinen. Aufgrund von Rechtsstreitigkeiten kam es nie dazu.

Ryuichi Sakamoto, David Byrne, Cong Su – The Last Emperor Original Soundtrack (1987)

Einer seiner größten Karrieremomente ereignet sich im Jahr 1987, als Ryuichi Sakamoto, David Byrne und Cong Su mit einem Oscar, einem Golden Globe und einem Grammy für ihren Soundtrack zu Bernardo Bertoluccis Filmbiografie-Epos „The Last Emperor“ (dt.: „Der letzte Kaiser“) ausgezeichnet werden.

Ryuichi Sakamoto & Alva Noto – Vrioon (2003)

„Ich arbeite gerne mit Leuten zusammen, die etwas haben, was ich nicht habe – eine Fähigkeit, eine Idee … Ich bin immer auf der Suche nach etwas Überraschendem – wie jeder andere brauche ich Inspiration und Auslöser“, sagte Sakamoto einst. Zu einem dieser Auslöser zählt gewiss Carsten Nicolai alias Alva Noto. „Vrioon“, ein eklektischer Mix aus stürmischen Pianos und filigranen Electronic-Sounds, ist ihr erstes gemeinsames Werk. Es sollten noch viele weitere folgen.

 

Aus dem FAZEmag 131/01.2023
Text: Hugo Slawien
Foto: Zakkubalan
www.sitesakamoto.com