St Germain – Ludovic hat den Blues

st germain (c) 2015 benoit peverelli
Kein Genre vergisst so schnell und vor allem so gründlich, wie die elektronische Musik. Erbarmungslos wie kaum eine andere schickt die moderne Clubkultur ihre ausgemusterten Protagonisten – Producer und DJs – aufs Altenteil, noch bevor oftmals das Saallicht am nächsten Morgen wieder angegangen ist. Mit dem französischen Musikvisionär Ludovic Navarre alias St Germain meldet sich nun eine wirkliche Ikone zurück aus der Versenkung, ohne die die Entwicklung des heutigen Deep House wohl grundlegend anders verlaufen wäre.

Eigentlich ist Ludovic Navarre ein unauffälliger, zurückhaltender Mann, der nicht weiter in der Pariser Metro oder in der Kassenschlange in der Galeries Lafayette auffallen würde. Und weder sein richtiger Name, noch das Pseudonym St Germain dürften dem normalen Clubgänger heute noch ein Begriff sein; ausgenommen von ein paar echten Electro-Nerds vielleicht. Dabei zählt der aus der Nähe der französischen Seine-Metropole stammende Monsieur zu den prägendsten und eigenwilligsten Köpfen innerhalb der elektronischen Musik, ohne dessen enormen Einfluss international erfolgreiche Mega-Acts wie Robin Schulz oder Avicii heute wohl nicht so klingen würden, wie sie klingen. Schon auf seinem 1995 erschienenen Durchbruchsdebüt „Boulevard“ hat der Deep House- und French Touch-Pionier Electro, House, Nu Jazz und Black Music zu einer komplexen Mischung verbunden, die der 42-Jährige auf den Nachfolgealben „From Detroit To St. Germain“ (1998) und schließlich dem mit Platin veredelten Drittwerk „Tourist“ aus dem Jahr 2000 immer weiter verfeinerte. Fünfzehn Jahre hat man nichts mehr von dem notorischen Stil-Grenzgänger mit dem durchdringenden Blick gehört – nach knapp fünfzehn Jahren Funkstille legt St Germain nun mit „Real Blues“ sein brandneues Album vor, auf dem sich Navarre der exotischen Verbindung aus elektronischen Klängen und südafrikanischer Worldmusic widmet. Ein Gespräch mit einem der immer noch progressivsten, wandlungsfähigsten Impulsgeber der europäischen Clubszene.

Mehr als 15 Jahre liegen mittlerweile zwischen der Veröffentlichung von „Tourist“ und deinem neuen Album „Real Blues“ – ein Comeback?

Nein, kein Comeback. Ich habe diesmal ein wenig länger als sonst ge- braucht, etwas Neues zu kreieren, das ich vorher noch nicht gemacht habe. Der Plan war, diesmal alles anders zu machen. Das dauert.

Man hat während der letzten Jahren faktisch nichts von dir gehört. Was ist während dieser Zeit passiert? Warst du einfach ein wenig lazy oder bist du ein Perfektionist?

Ich war absolut nicht faul, sondern würde mich tatsächlich als extremen Perfektionisten betrachten! Es hat ziemlich viel Zeit in Anspruch genommen, die Tracks so zu entwickeln, wie sie heute auf dem Album zu finden sind. Ich habe vor sieben oder acht Jahren mit den ersten Arbeiten zu „Real Blues“ angefangen. Nachdem „Tourist“ erschien, hatte ich schon wieder ein weiteres Album fertig, das ein wenig in die Richtung von „Real Blues“ ging. Irgendwann wurde mir bewusst, dass die Songs nicht gut genug waren – also habe ich den ganzen Kram wieder gelöscht und von vorne angefangen.

15 Jahre bedeuten in der elektronischen Musik eine echte Ewigkeit. Bist du nervös, wie die neue Generation von Clubgängern heute auf St Germain reagieren wird?

Ich sehe das eigentlich ganz entspannt. Ich habe keine hochgesteckten Erwartungen. Alles, was ich musikalisch mache, tue ich, um mich selbst zu unterhalten. Es geht einzig und alleine darum, meine Erwartungen an mich selbst zu erfüllen. Das war schon immer meine einzige Triebfeder, das hat sich auch heute nicht geändert. Ich freue mich natürlich, wenn die Leute die neuen Tracks mögen. Aber ich werde mich nicht ärgern, wenn es nicht so ist.

Dein Longplay-Debüt „Boulevard“ erschien vor genau zwanzig Jahren – statt dich zum Veröffentlichungsjubiläum selbst zu feiern, wirfst du auf dem neuen Album scheinbar ganz bewusst keinen Blick zurück. „Real Blues“ ist auffällig unnostalgisch, was Selbstreferenzen angeht. Stattdessen vollziehst du eine extreme Wandlung hin zu einem farbenfrohen Worldmusic-Sound, der mit dem vorherigen Schaffen von St Germain nur noch am Rande zu tun hat.

Ich war noch nie daran interessiert, mich zu wiederholen. Das neue Material sollte ganz bewusst anders ausfallen. Eine gewollte Entwicklung: afrikanische Klänge kombiniert mit Deep House. Irgendwann kam mir die Idee, diese bunten, exotischen Worldmusic-Sounds zu verwenden. Nachdem ich mir anfänglich nicht so sicher war, wie ich beides zusammen bringen sollte, habe ich irgendwann einfach angefangen – und es hat funktioniert.

Du wirst seit zwei Dekaden als bahnbrechender Pionier des Deep House und French Touch gehandelt – wobei das neue Material kaum noch etwas mit diesen Stilistiken zu tun hat.

Ich denke, diese beiden Genres sind ein feststehender Begriff in der internationalen Clubkultur. Der Name St Germain steht auch heute noch für einen bestimmten Musikstil, eine gewisse musikalische Handschrift. Diese besondere Mischung aus organischem, von echten Musikern gespie- lten Jazz und elektronischen Klängen setze ich auf „Real Blues“ in anderer Weise fort. Statt Jazz gibt es heute Worldmusic. Das ist der Hauptunterschied.

Ist dir „herkömmliche“ Clubmusik zu langweilig?

Nein. Ich finde die aktuellen Club-Sounds absolut nicht langweilig. Clubmusik hat sich ständig weiter entwickelt, verändert und völlig neue Blüten hervorgebracht. „Real Blues“ ist ein Bestandteil dieser ständigen Weiterentwicklung. Man kann im Moment einen Wandel der Inspirationen beobachten: Ich bin sicher, dass wir spätestens in einem Jahr in europäischen Clubs zu House-Acts aus Südafrika tanzen werden. Oder zumindest zu Einflüssen aus dieser Region! Deswegen auch der Albumtitel „Real Blues“: Der Blues, wie wir ihn kennen, stammt ursprünglich aus Afrika und gelangte damals durch Sklaven in die USA. Mit dem Titel „Real Blues“ verneige ich mich vor dem Original-Blues, vor den Wurzeln.

Gab es vor Produktionsbeginn einen konkreten Masterplan oder eine Vision, wie die Songs auf „Real Blues“ im Einzelnen klingen sollten?

Nein. Einen echten Masterplan gab es für „Real Blues“ nicht. Mir war lediglich im Vorfeld klar, dass ich diesmal Instrumente benutzen wollte, die ich noch nie zuvor verwendet hatte und die meines Wissen auch noch zu zuvor in einem Deep House-Track aufgetaucht sind: die Kora, das Balafon oder die N`Goni zum Beispiel. Das ist eine Parallele, was das neue Album mit meinen früheren Sachen gemein hat: Mit Klängen zu arbeiten, die viele nicht im Club oder in der Dancemusic vermuten würde. Zuerst habe ich mich mit nigerianischen Einflüssen beschäftigt, danach mit ghanesischen und schließlich mit traditioneller Musik aus Mali, die sich am besten mit elektronischen Elementen verbinden ließ.

Wie hast du diese traditionellen Instrumente und Klänge gefunden?

Früher bin ich viel gereist, das mache ich heute kaum noch. Ich schaue lieber, was es im Netz für spannende Entwicklungen gibt und lasse mich dadurch inspirieren. Ich bin niemals selbst in Afrika gewesen, sondern habe mich ausschließlich online informiert. Das Internet ist eine großartige Erfindung. Ich liebe es, mich durchs Netz treiben zu lassen und neue Dinge, neue Klänge, neue Musik zu entdecken. Gerade mit Ghana habe ich mich sehr lange und intensiv beschäftigt. Ich wusste vorher weder etwas über das Land, noch über die Musik, die von dort stammt. Vielleicht werde ich eines Tages noch mal dort hin reisen, um mir alles aus der Nähe anzuschauen und anzuhören. Aber momentan ist dies für mich mit einem zu hohen Aufwand verbunden.

Betrachtest du dich als eine Art moderner Indiana Jones für verlorene Klänge, um alte Traditionen und vergessene Instrumente lebendig zu halten?

Soweit, mich als Indiana Jones zu bezeichnen, würde ich nicht unbedingt gehen. Es geht auch weniger um Traditionen. Ich bin diesen traditionellen Musikern einfach sehr dankbar. Ich wollte diese exotischen Instrumente in den Vordergrund stellen. Die Tracks sind durch ganz klassisches Jamming entstanden. Wir haben einfach gemeinsam musiziert. Ich kann nicht beurteilen, ob mein Album einen Hype um diese Instrumente auslösen wird – wahrscheinlich eher nicht. Früher habe ich oft mit westlich geprägten Jazz-Musikern zusammen gearbeitet. Ich habe das immer als eine sehr statische, unflexible Art der Zusammenarbeit empfunden. Gerade im Jazz-Bereich ist alles sehr verkopft; es wird viel über die Stücke nachgedacht, viel diskutiert und am Ende auch einfach sehr viel zerredet. Es läuft sehr theoretisch ab. Alles wird minutiös abgezählt, analysiert und standardisiert. Afrikanische Musiker sind das komplette Gegenteil: Man hat eine Idee, die man sofort umsetzt, ohne sich vorher groß Gedanken zu machen. Eine sehr spontane, ursprüngliche und erfrischende Herangehensweise. Die Songs wachsen und entwickeln sich während des Spielens, ohne dass man sofort bei jeder improvisierten Note stundenlang diskutieren muss, ob sie angebracht ist oder nicht. Diesmal ist alles sehr frei, improvisiert und sehr instinktiv abgelaufen. Wir haben die Songs einfach fließen lassen.

Hatte deine Heimatstadt Paris gar keinen Einfluss auf die Tracks?

Nein, überhaupt nicht. Mich faszinieren Klänge im Allgemeinen. Wie man momentan sehr deutlich hört, gerade die afrikanische Klangsphäre. Aber auch westliche Sounds von Acts aus den Vereinigten Staaten inspirieren mich: Blues, Soul …

Trotz des verbindenden Elements – der Worldmusic – sind die Tracks auf „Real Blues“ auch untereinander sehr verschieden: angefangen beim sehr clubbigen „Family Tree“, über das bluesige „How Dare You“ bis hin zu „Forget Me Not“; einer Art japanisch klingendem Jazzstück. Was war der härteste Part während des Making Of?

Es war anfänglich ein wenig tricky, die verschiedenen afrikanischen Instrumente und Klänge mit den elektronischen Parts zu verbinden. Ich musste viel herumexperimentieren und bin verschiedene Wege gegangen. Es sollte sich nicht zu simpel anhören, sondern eine echte Einheit ergeben. Einfach nur ein paar afrikanische Klänge zu nehmen und sie dann mit einem modernen Beat zu unterlegen, wäre mir zu einfach.

Was ist in deinen Ohren der momentan schönste Klang?

Ich würde sagen, momentan bin ich ganz vernarrt in den Klang des N’Goni und der Kamele: Ein Saiteninstrument, ähnlicher einer Kora, allerdings hat sie viel mehr Saiten. Ich kannte zwar den Sound, wusste aber nicht, welches Instrument ihn hervorbringt. Ich habe mich dann näher damit beschäftigt und herausgefunden, dass es sich um ein Instrument handelt, welches die Stammeskrieger in Mali während der Vorbereitung auf die Jagd bei ihren Ritualen benutzen.

Auf dem Coverartwork von „Real Blues“ ist dein Gesicht als eine Art Totenmaske von dem französischen Urban Art- Director Gregos zu sehen – ganz schön morbide Verpackung für einen so exotischen Sound!

Im ersten Moment mag es tatsächlich etwas seltsam und makaber wirken, doch wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, ergibt es irgendwie einen Sinn. Ich sehe darauf ja auch sehr entspannt aus. Ich hatte anfänglich auch Bedenken. Ich habe insgesamt zwei dieser Masken und finde sie mittlerweile ganz annehmbar. Und das, obwohl ich mich eigentlich nicht einmal auf Fotos mag. Geschweige denn, einen Abdruck meines Gesichts. Doch ich habe mich dran gewöhnt … / Thomas Clausen

Foto: Benoit Peverelli
Coverstory aus dem FAZEmag 044/10.2015