Claudio Puntin – Human-biologischer Techno

Foto: Grzegorz Golebiowski

Aus seinen vielfältigen musikalischen Wurzeln hat er eine persönliche musikalische Sprache mit einer Art natürlichem Zugang und starkem rhythmischen Ansatz entwickelt, die Electronica, alternative Techniken und selbst erfundene Instrumente einschließt. Seine Kompositionen und Produktionen umfassen Werke für alternative Ensembles, Sinfonieorchester, Chöre, Soundtracks für Hörspiele, Filme, Theater und andere Kunstformen. Seine melodische Kreativität auf Klarinetten und Elektronik ist in vielen Filmsoundtracks zu hören und seine Soloauftritte sind beeindruckende Beispiele für unmittelbares Komponieren und musikalische Freiheit. Diese Gabe führte Claudio Puntin in verschiedene musikalische Welten. Er kollaborierte mit Künstler*innen wie Steve Reich, Ricardo Villalobos, Skuli Sverrisson, Samuel Rohrer und vielen weiteren sowie mit Ensembles wie dem Ensemble Modern, Musikfabrik, Minnesota Orchestra und philharmonischen Orchestern in Amsterdam, Köln, Reykjavik, München, Zürich und Berlin. Er gewann zahlreiche Awards, darunter den „Goldenen Amadeus für kreative Musik“ sowie den „WDR-Jazzpreis als bester Solist 2004“. Außerdem unterrichtete er 15 Jahre an der Musikhochschule in Köln, der Universität der Künste in Berlin und gibt internationale Meisterkurse. Ende letzten Jahres ist mit „QUANTUM“ ein neues Solo-Album von Claudio Puntin erschienen.

Claudio, deine Art zu musizieren, ist beeindruckend und von Improvisation dominiert.

Danke. Inspiriert zu dieser Form des Musizierens hat mich die Betrachtung der aus der Quantenforschung bekannten Superpositionen. Auch die Verwandtschaft von musikalischen Aktionen in Echtzeit mit dem Doppelspalt-Phänomen schien mir schon lange offensichtlich. Die Musik von „Quantum“ ist im Prinzip eine sich fortwährend erneuernde Verschränkung von Superpositionen zu einem sich ebenso wandelnden musikalischen Gesamtzustand, abhängig davon, welchen rhythmischen Elementen gerade Beachtung zuteilwird. Die inspirierende Quelle im Entstehungsvorgang ist das improvisatorische Tun. Improvisation ist für mich der ewige Zustand des Universums – klingt jetzt sehr pathetisch, aber ich finde keine besseren Worte. Daraus erwächst jede weitere Entscheidung, der Zugang zu allem. Deshalb widme ich mich der einzigartigen Jetzt- und Wahrheits-Disziplin: der Musik. Sie entsteht in der Gegenwart und schafft ihre eigene Konsequenz, immer neu, immer aus sich selbst heraus.

Wie bist du generell zur Musik gekommen?

Bereits in meiner frühen Kindheit habe ich offenbar die Begabung gehabt, auf kindliche Art zu verstehen, was Improvisation ist. Ich habe seit Geburt sehr viel Musik mitbekommen und begann mit zwei Jahren, Musik selbst zu machen. Immer auch improvisatorisch, erfinderisch. Das änderte sich bis heute nicht. So habe ich auch früh festgestellt, dass alle Menschen, und ich meine wirklich alle, wahrscheinlich immer improvisieren. Die meisten nennen es nicht so, es ist ihnen etwas ungeheuer dabei. Ich erfuhr, dass diese allzeit zur Verfügung stehende Freiheit wohl nicht in die Planungsstruktur des Joblebens passt. So entschied ich früh, aus der strukturierten Welt der festen Planungen auszusteigen. Diese schienen mir nicht echt, nicht der Wirklichkeit entsprechend, denn im nächsten Moment zeigte sich bereits eine Alternative zu jeder Planung. Diese Alternativen begeisterten mich, sie wuchsen zu neuen Möglichkeiten, und ich war damit nicht alleine, trotz meiner Alleingänge. Es fühlte sich an wie Schritte, die man gehen muss, um von der Unendlichkeit geküsst zu werden. Ich brauchte nicht zu entscheiden, mein Weg. So verließ ich, sobald ich konnte, die Schule, um selbst zu finden, was ich lernen will, wie viel und wie schnell und intensiv.

Wie sieht das konkret aus?

Ich suchte Menschen auf, von denen ich Dinge lernen wollte, meist Musik oder Kunsthandwerk, aber auch vieles mehr. Ich habe meine Studien so gestaltet, wie ich wollte, wann ich wollte und es zeigte sich als guter, manchmal steiler Weg. Ich habe nie einen festen Job gehabt; wenn ich unterrichtet habe, dann wie und wie viel ich und die Studierenden wollten und konnten. Altes Können, alte Techniken, täglich geübt über Jahrzehnte, ein altes Instrument, um damit neue Dinge zu tun, woraus sich wieder neue Welten zeigten. Klarinetten, Elektronik, Komposition, Kunst, Natur. Mit Menschen, die sich nicht komprimieren ließen, die ihre weite Amplitude kreativ nutzten, habe ich mich immer gut verstanden, daraus entstanden viele Projekte.

Du bist in der Schweiz, in Zug geboren und aufgewachsen. Wie hat sich deine Heimat auf dich als Künstler und deinen Sound ausgewirkt?

Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, als es weder Computer, das Internet noch digitale Währungen gab. In meiner Freizeit habe ich Berge bestiegen oder mit Freunden am Zuger See geangelt, Basketball und Fußball gespielt. Dort habe ich auch meine ersten Musikerfahrungen gemacht, privaten Musikunterricht erhalten und meine ersten Bands gegründet. Aus diesem „Gehörtwerden“ habe ich Freude an jeder Art von Musik entwickeln können. Insofern haben mich die naturbezogene und die kulturelle Landschaft der Innerschweiz schon geprägt. Der Sound, den ich heute gefunden habe, hängt wohl eher mit der Entwicklung eines Reisenden zusammen, einer, der einsammelt und zu Neuem werden lässt. Je größer die Sammlung, desto vielseitiger das Neue.

Sound allein ist für mich wie Wasser oder Sauerstoff, man braucht ihn und vieles mehr, damit etwas entstehen kann, aber das so Entstandene ist nicht der Sound oder das Wasser, es ist viel mehr als die Summe all der Zutaten; Pflanzen und Lebewesen, Musik. Ich hatte das Glück, in einem individuell geformten Bewusstseinsumfeld aufzuwachsen, obwohl gerade in Zug schon damals kapitalistische institutionelle Formen dominant waren, denen viele Menschen ihre Individualität hergegeben haben. Aber es bestand eben auch ein gutes Gleichgewicht durch kulturelle Selbstverständlichkeiten wie Blaskapelle, Orchester, Bands, künstlerisches Handwerk, welches alles gelehrt und genutzt wurde.

Wie sieht deine aktuelle Arbeitsweise und Instrumentation aus?

Meine Ausgangslage ist meine Klarinette, sie ist mein Keyboard, mein Synth, mein Beat-Generator, ein wichtiges Komponier-Tool, sowie meine tägliche Yogamatte. Ja, und sogar Geld verdiene ich damit. Ich verwende die gesamte Klarinettenfamilie, von der unendlich fetten Kontrabassklarinette (low end 27 Hz) bis zur Tinituswaffe, der kleinen Es-Klarinette. Mittels eines Pick-ups triggere ich meine Electronic-Circuits mit Klarinetten an. Ich verwende nie Sequenzer, da ich mich keinen vorgegebenen Symmetrien unterordnen kann, und mein Groove-Bewusstsein so stabil und vielseitig ist, dass ich Fragmente aus filigransten Time- und Melodie-Partikeln selbst kreieren, sequenzieren oder loopen und entdecken kann, wie sich über Minuten Grooves verschieben, die möglicherweise nur um Tausendstel-Noten unterschiedlich lang sind. Ebenso verwende ich keine Pre-Sets, da jede Situation in jedem Parameter neu ist, und ich würde das Alte zum Bösen werden lassen, wo doch so viel Neues immer zur Verfügung steht. Routine erachte ich als keinen guten Freund, Übung allerdings schon.

Wie würdest du die Wahrnehmung und Wirkung auf die Zuhörer*innen beschreiben?

Es zeigte sich, dass junge Menschen die neue, einfadende Impuls- oder Groove-Ebene viel früher wahrnehmen als ältere Menschen. Diese tendieren dazu, das etablierte Element so lange zu verfolgen, bis es fast verschwindet, obwohl neue Grooves bereits sehr dominant wurden. Das Interessante dabei ist, musikalisch-kompositorisch zu agieren, also die Proportion von Spannung und Entspannung so einzuhalten, dass die maximale Expansion der Spannung innerhalb der jeweiligen Situation erreicht werden kann, ähnlich eines Dominante-Tonika-Verhältnisses. Ab mehr als drei unabhängigen Stimmen lassen sich die einzelnen Stimmen nicht mehr erfassen, der Mensch beginnt zusammenzufassen, die Wahrnehmung wechselt von horizontal zu vertikal. Und jetzt wird es interessant, denn möglicherweise ist dies ein Hinweis auf Grenzbereiche redundanter und additiver Intelligenz, Bereiche zwischen Leben und Tod, zwischen Mensch und Maschine. Im Übergang der Verdichtungsproportionen von drei zu vier Elementen kommt es zu einer Zeit-Wahrnehmungs-Verschiebung aufgrund überstiegener Proportionen-Kapazität. Aus der Musik kennt man das bei Fugen, sind sie bis dreistimmig, so bleiben die einzelnen Stimmen linear horizontal noch wahrnehmbar, ab vier Stimmen beginnen wir diese zusammenzufassen und hören sie als vertikale Harmonie. Ich frage mich oft, ob es bei sozialen Überschreitungen der Wahrnehmungsproportionen auch zu ähnlichen Paradigmen-Wechseln kommt, wo die Wahrnehmung in einen anderen Dimensionsraum gerät. Ich denke, definitiv ja. Gelernt aus der Improvisation, angewandt in jeder Form der Institutionalisierung, dadurch wohl kaum aufbauend kreativ, sondern statisch und komprimierend.

Das ist ziemlich interessant. Wie zeigt sich das auf deinem neuen Album „QUANTUM“?

Ich könnte sagen, ich musiziere quantenmechanisch, das entspricht allerdings keiner musikalischen Erfahrung oder Begrifflichkeit, also umschreibe ich es so: „QUANTUM“ ist eigentlich ein human-biologisches Techno-Album, in dem alle Klangquellen aus organischem Material generiert sind und alle rhythmischen Sequenzen ebenso. Das komplette Album ist in Echtzeit eingespielt und produziert worden, es gibt keine Overdubs. Die Musik kann genauso nie wieder gespielt werden, aber ich bin mittlerweile in der Lage, dieses Konzept live zu spielen und immer wieder neue Musik sehr verwandter Art entstehen zu lassen. Als klangliches Grundmaterial verwende ich organische Klänge, meist von Klarinetten in allen Lagen generiert, um die kurzen rhythmischen Muster zu bilden. Diese sind in ihrer Entstehung und im Klang der biologischen Hörerfahrung näher als den Klängen von Synthesizern, selbst wenn ich sie mittels einer Verkettung von Klangprozessoren zu Veränderungen führe. Es entsteht so die gleiche Verschränkung im Klang wie im Rhythmus. Das Konzept ist vielschichtig, im Zentrum stehen verschiedene Ebenen musikalischer Impulse, die durch Überlagerungen in Beziehung zueinander kommen. Diese sind von ihrer Beschaffenheit her weder voraushörbar, noch ist ihre entstehende Polyrhythmik periodisch. Das Ohr erfasst kommende und gehende Impulse durch unterschiedliche Kriterien und verlässt bereits erfasste Zustände zugunsten der neuen Überlagerung. Trotzdem folge ich einem energetischen Formbewusstsein, dies erfordert kompositorische Aufmerksamkeit in Echtzeit.

Welche Philosophie verfolgst du hier?

Dieses Album öffnet tatsächlich den Zugang erweiterter Wahrnehmung gegenüber künstlicher Intelligenz im Verhältnis zur wasserbasierten Beobachtungsfähigkeit durch organisches, also vom instinktiven und improvisatorischen, Fühlen geleitetes Amalgamieren von Klängen in Zeit und Beschaffenheit. Die Quantum-Musik ruft wenig Bekanntes ab, Patterns zum Kategorisieren gibt es noch nicht, die Erfahrung des Hörens ist frisch und schafft jedem seine natürliche Resonanz.
So zeigt sich die Improvisation weiterhin als die wesentliche Art, absichtslos zu fühlen, und in der Folge des Jetzt organische Planung zu öffnen. Aus dem Moment materialisieren sich die Bedürfnisse der eigenen Zukunft. Natürlich war dies schon immer einer der größten Attraktoren der Musik, blieb aber bisher auch ihr größtes Enigma, was sich möglicherweise gegenseitig bedingt.
Das System Musik kann uns Vorbild jeder Planung sein, ohne Trennung des Sinnlichen vom Mentalen und umgekehrt. Das ist mir wichtig. In der Gestaltung des Covers habe ich die gleichen Prinzipien angewandt wie in der Musik. Analoge Quellen meiner Kugelschreiber-Zeichnungen, komplett improvisiert, sich aus dem Entstehenden orientierend, mit diversen Grafikprocessings verarbeitet, gleich dem elektronischen Sound-Processing, so entstanden Farben und Erweiterungen aus den gezeichneten Vorlagen.

Nun haben wir eine Zeit erreicht, in der naiv kokettiert wird mit der Vermengung der zwei Intelligenz-Systeme, des redundant Biologischen und des additiv Künstlichen. Wir könnten erfahren, wir könnten auch Antworten erhalten, doch ich vermute stark, dass dies nicht über die Sprache geschehen wird, wir werden sehen, doch hören wir erst einmal weiter zu, denn Zuhören ist Zugang. Mini-Melodien als Patterns, die in Wiederholungen und Transformation fragmentale Interferenzen kreieren, miteinander in Relation kommen und so unsere Sinne antriggern: Tribe-ähnliche polyrhythmische Groove-Musik, Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Distanzen, zeitlich und räumlich. Selbst wenn wir diese Zustände, diese Tribe-Erfahrungen im eigenen Leben nicht erlebt haben, gibt es in uns Informationen zur Verbindung. Erklärungen sind ab dem Moment kaum zu formulieren, doch die Verknüpfung ist da, egal, woher ich komme, was ich erfahren habe. Es ist der Puls der einzelnen Grooves eines jeden von uns, im Zusammen mit dem Groove eines jeden anderen von uns. Möglicherweise geht es noch viel weiter, aber wir sind alle da, wo wir sind, in Bewegung mit allem. Während ich dies formuliere, höre ich dem gleichzeitigen Gurren mehrerer Tauben zu. Ich spüre, wie ihre sich verschiebenden Patterns aus unterschiedlicher Distanz, trotz der sich für mich schwer ergründbaren Motivation, eine unbeabsichtigt sinnliche Polyrhythmik ergeben. Das ist doch dieser Zugang zu Zuständen, die, selbst wenn im eigenen Leben nie erlebt, weil nicht Taube, die ewigen Informationen in uns in Verbindung bringen. Ein „TRIBE ACCESS“.

Wie lange hast du am neuen Werk gearbeitet?

Das ist nicht leicht zu sagen, denn das Album ist ein Entwicklungsdokument verschiedener Prozesse. Die Aufnahmen gingen schnell, die Auswahl war auch schnell getroffen, einige Wochen, heute würde ich ein Album dieser Art auch live produzieren. Doch die Entwicklung bis zu diesem Punkt dauerte lange. Vom analogen Musiker und Solisten zum elektronischen Sound-Creator, dafür sind einige Jahre vergangen, gute Jahre, mit unendlich vielen neuen kindlichen Spielprozessen gepaart mit komplexen Lernphasen zwischen Technik und Übung. Daraus ergab sich eine Ästhetik, die ich nie voraussehen konnte. Sie wurde durch musikalisches kompositorisches und improvisatorisches Bewusstsein gelenkt und in Form gebracht. Ähnlich verhält es sich auch mit meinen zeichnerischen Soundfindungen, die auf dem Cover landeten.

Wirst du dieses Konzept weiterhin verfolgen? Wie sieht deine Zukunft aus?

Die Musik von „QUANTUM“ möchte ich auf ein Symphonieorchester übertragen, ja. Ein spannendes Vorhaben, erste Skizzen gibt es bereits. Die Elektronik wird selbstverständlich zu einem neuen Orchesterinstrument und in den Orchesterklang integriert, die Superpositionen individueller Rhythmen in relativ autonom agierenden Gruppen orchestriert. Ebenso befindet sich ein zweites Album mit Quantum-Musik in Arbeit, das wird wohl Anfang 2024 fertig. Aber was ganz oben anliegt, ist ein filmisches Werk, das sich mit der beschriebenen Echtzeit-Planung beschäftigt und dem Vorbild der musikalischen Improvisation folgt. Daran arbeite ich bereits seit etwa einem Jahr mit einem Partner aus der Filmbranche. Wir entwickeln und produzieren eine neue Form zwischen Film und Live-Aufführung. Dafür sind wir mobil in ganz Europa unterwegs und sammeln Bewusstsein und Sensibilität ein, um die Unterscheidung zwischen Suggestion, Realität und Wirklichkeit sicht- und hörbar zu machen. Musik spielt darin eine leitende Rolle, die Art ihrer Entstehung aus der Improvisation prägt die Entstehung der filmischen Bilder und des Scriptes. Mehr kann ich hier noch nicht verraten. Ich bin zurzeit mit frischen kreativen Jazzbands, aber z.B. auch mit meinem Barockquartett unterwegs, und habe einige neue Kompositionen in der Mappe. Im Frühjahr bin ich mit einer internationalen europäischen Band wieder in Zentralasien, um mit dortigen Musiker*innen gemeinsam zu arbeiten und Konzerte zu geben.

Aus dem FAZEmag 132/02.2023
Text: Lisa Bonn
Foto: Grzegorz Golebiowski
www.claudiopuntin.bandcamp.com