Frauen in der Szene: vier Stimmen über Chancengleichheit und den Status Quo

 

 

Der Weltfrauentag jährt sich heute zum 113. Mal. 2024 ist der Kampf um Gleichberechtigung und Chancengleichheit von Frauen oder FLINTA*-Personen längst auch in der elektronischen Musikszene angekommen, weshalb wir vier beteiligte Akteurinnen zu Wort kommen lassen wollen, um mit ihnen über den aktuellen Status Quo innerhalb der Branche zu sprechen.

Beantwortet wurden unsere Fragen von:

  • Klaudia Gawlas, mehrfache Gewinnerin unseres Jahrespolls und echtes Urgestein der Techno-Szene. 2023 gewann sie erneut in der Rubrik „DJ National“ – hier lest ihr das Interview.
  • Talida Wegener, langjährige Bookerin von Sven Väth und Gründerin von Zeitgeist Booking, das unter anderem Anna Reusch, Paco Osuna und UMEK verbucht. Ihre Expertise und ihr Knowledge haben maßgeblich zum großen Erfolg von Cocoon und Sven Väth beigetragen.
  • ÜBERKIKZ, einer jungen, ambitionierten Newcomerin aus Wiesbaden, die sich mit einem kompromisslosen Hard-Groove-Sound derzeit von Club zu Club spielt (hier geht’s zu ihrem HÖR-Set).
  • Kimmah, einer Resident-DJ aus Rotterdam. 2023 führte sie als eine der ersten Künstlerinnen einen Safety-Rider ein, um sich vor Sexismus und Diskriminierungen zu schützen. Hier findet ihr ihr HÖR-Set.

Wie verbringt ihr den Weltfrauentag und welche Bedeutung hat er für euch?

ÜBERKIKZ: Ich spiele heute bei einer Veranstaltung in Berlin mit einem female-only line-up und gehe auf die Straße. Der 8. März, ist einer der wichtigsten Tage für mich im Jahr. In Russland, wo ich herkomme, wird der Tag sehr gefeiert, allerdings sehr unreflektiert (= Frauen bekommen Blumen und Pralinen geschenkt). In erster Linie möchte ich aber gehört, wertgeschätzt und respektiert werden. Ich möchte, dass man mir glaubt, und dass ich Raum einnehmen darf.

Talida Wegener: Ich habe einen Tag vorher Geburtstag und meine Besten sind da. Katrin & Sabine Schlotfeldt, Tanja Rohe und Sue Seyfried. Alles alte Hasen aus dem Geschäft. Wir werden wohl mit einem „Hangover“ den Weltfrauentag in meiner Wellness-Oase mit einem Aprés-Bday-Drink verbringen und freuen uns daher über ganz viel Frauenpower!!

Talida Wegener

Kimmah: In den letzten Jahren habe ich den Weltfrauentag zusammen mit der lebendigen Gemeinschaft von Operator Radio, einem lokalen Radiosender in Rotterdam, gefeiert. Unter der Leitung unserer talentierten Programmgestalterinnen Kris Mika und Ofra Beenen haben sich diese Veranstaltungen zu einer starken Plattform für Femme-Künstlerinnen entwickelt, die sich zusammenschließen, Musik austauschen und an Podiumsdiskussionen teilnehmen. Es ist eine besondere Gelegenheit, bei der wir miteinander in Kontakt treten, Geschichten austauschen und die Herausforderungen ansprechen, mit denen wir als Femme-Künstlerinnen in der elektronischen Musikszene konfrontiert sind. Diese Treffen haben die Solidarität unter uns in Rotterdam gefördert und uns befähigt, gemeinsam systemische Probleme innerhalb der Branche anzugehen. Der Internationale Frauentag ist eine starke Erinnerung daran, wie wichtig es ist, die Stimmen der Frauen zu stärken, um letztendlich positive Veränderungen voranzutreiben.

Klaudia Gawlas: Der Weltfrauentag ist mir sehr wichtig. Ich habe einen Gig in Oslo und freue mich schon sehr darauf. Ich habe meinen neuen Release „Canvas“ im Gepäck und möchte ihn nicht nur mit allen Frauen feiern, sondern mit allen, die hinter den Werten stehen, dass niemand aufgrund des Geschlechts, der Hautfarbe oder sexueller Ausrichtung benachteiligt werden darf. Canvas bedeutet Leinwand und soll an diesem Tag jeden dazu einladen, ein neues Bild zu malen. Wir sind drei Frauen im Line-up, das ist schon mal sehr passend finde ich.

Wie fühlt ihr euch im Jahr 2024 als Frau innerhalb des elektronischen Musikkosmos? Fühlt ihr euch anders als vielleicht noch vor einiger Zeit?

ÜBERKIKZ: Ich fühle mich relativ wohl, da ich ein gewisses Standing in der Szene habe und auch den Eindruck vermittelt bekomme, dass ich als Frau ernst genommen werde.. Das war aber nicht immer so und ich hatte auch unzählige Momente, in denen ich nicht für voll genommen wurde. Mittlerweile hat sich das geändert, auch, weil ich ein gutes männliches Backup habe (also Männer, die mich unterstützen und mit mir zusammenarbeiten). Ich finde allerdings, dass Wertschätzung und Respekt davon losgelöst sein sollten, ob ich mit Männern zusammenarbeite, oder nicht. Ich habe schon öfter von FLINTAs gehört, dass sie nicht ernstgenommen werden, wenn sie kein ausgeprägtes männliches Netzwerk haben.

Talida Wegener: Ich habe mich in 30 Jahren sehr gut im Techno-Business etabliert und allen Männern gezeigt wo der Hammer hängt.

Kimmah: Als weibliche Künstlerin in der elektronischen Musik fühle ich mich mehr denn je ermächtigt. Die zunehmende Präsenz von Frauen in der Branche dient als Inspiration und macht den Einstieg weniger entmutigend, da es in allen Genres viele Vorbilder gibt, die den Weg ebnen. Das ist eine große Veränderung im Vergleich zu vor zehn Jahren, als Frauen aufder Bühne noch kaum vertreten waren. Außerdem gibt es seit der #MeToo-Bewegung ein größeres Bewusstsein für Sicherheitsfragen, insbesondere im Arbeitsumfeld. Insgesamt denke ich, dass die Branche derzeit ihr Bestes tut, indem sie an einem Gefühl der Inklusivität und Sicherheit arbeitet.

Klaudia Gawlas: Nun wir waren damals, als ich anfing, nicht viele Frauen an den Turntables, meist war ich die einzige im Line-up. Es war sehr schwer sich zu etablieren und Männer waren die „Entscheider“. Heute bin ich froh, wenn ich Kolleginnen treffe und wir uns als Frauen austauschen können. Für mich selber habe ich das Frausein nie als Begrenzung gesehen. Es ist irritierend zu sehen, dass jetzt auch die Männer sagen, sie wären gerade gerne eine Frau, da die Frauen jetzt angeblich viel gefragter seien und mehr Aufträge bekommen würden. Aber genau dieser Satz spiegelt das Problem wider: dass uns Frauen sehr wenig zugetraut wird. Er impliziert , dass wir wegen unseres Geschlechts und der vermeintlichen Attraktivität dahinter und nicht wegen unserer Leistung und des Könnens gebucht werden.

Klaudia Gawlas

Frauen und Männer sind auf Club- und Festival-Line-ups heutzutage ausgewogener vertreten – eine Studie von female:pressure hat das kürzlich belegt. Entspricht das eurer Wahrnehmung?

ÜBERKIKZ: Es wird besser, aber es gibt noch sehr viel Handlungsbedarf. Ich denke, das liegt daran, dass immer noch hauptsächlich Männer veranstalten, managen, organisieren, sprich: das „Sagen” haben.

Talida Wegener: Gähn! Kann die Frage nicht mehr hören. Wir sind hier in einem „westlich“ geprägten  Land und hier kann sich jeder mit genug Ehrgeiz durchsetzen.

Kimmah: Wir machen definitiv Fortschritte, aber es gibt noch viel zu tun. Der Underground geht proaktiv gegen dieses Ungleichgewicht vor, und ich bin optimistisch, dass sich das bald ändern wird. Es gibt zwar einige Veränderungen in Richtung einer gleichberechtigteren Repräsentation, aber es gibt immer noch eine spürbare Lücke in größeren Lineups, die immer noch von Männern dominiert werden. Ich denke jedoch, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis jeder die Botschaft und das Ziel verstanden hat, ein ausgewogeneres Programm anzustreben, das die Vielfalt der Talente und des Sounds widerspiegelt.

Klaudia Gawlas: Das könnte man so sagen. Ich zähle zwar nicht durch, aber man sieht den Trend. Mit Charlotte de Witte haben wir die erfolgreichste Akteurin in der Szene und es ist schön, dass sie immer noch eine Schippe drauf legt. Sie und viele andere haben das Ganze auf eine andere Ebene gebracht. Respekt!

Gibt es weitere positive Entwicklungen dieser Art, die ihr in den vergangenen Jahren vernommen habt?

ÜBERKIKZ: Was ich richtig cool finde, ist, dass es immer mehr Formate gibt, in denen FLINTAs anderen FLINTAs Wissen vermitteln (z.B. DJ-/Producer-Workshops). Positiv anzumerken ist auch, dass es ein wachsendes Bewusstsein für gefährliche Situationen für FLINTAs gibt und auf Veranstaltungen vermehrt Awareness-Teams eingesetzt werden.

ÜBERKIKZ

Talida Wegener: Ja, es sind mehr Frauen als DJs dazu gekommen. Der Trend zu(r) Frauen (zu werden) ist auf jeden Fall extrem gestiegen, jedoch sieht man seltener Frauen als Live-Performer. Da ist sicherlich noch Entwicklung nach oben möglich!

Kimmah: In den letzten Jahren haben sich immer mehr weibliche Künstlerinnen zu Wort gemeldet und auf die unsicheren Arbeitsbedingungen im Nachtleben aufmerksam gemacht. Es ist ermutigend zu sehen, dass die Branche endlich beginnt, diese Probleme anno 2024 anzuerkennen. Ich denke, das ist ein großer Schritt nach vorne, wenn man das kollektive Engagement sieht, sicherere und integrativere Räume innerhalb der elektronischen Musikszene zu schaffen.

Klaudia Gawlas: Ich denke allgemein hat sich der Zugang zur Musik für Frauen zum Positiven entwickelt. Egal, ob im Studio oder beim Auflegen. Durch das Internet kann man sich viel aneignen, was zur Folge hat, dass Frauen sich immer mehr zutrauen. So wird der Kreis dann zum Glück größer. Frauen können sich dadurch losgelöst vom Patriarchat ausprobieren, entwickeln und darstellen.

Ein großes Problem sei – so hört man immer wieder – nach wie vor die unverhältnismäßige Bezahlung von weiblichen und männlichen Acts. Welche Erfahrungen habt ihr in diesem Hinblick gesammelt?

ÜBERKIKZ: Damit habe ich bisher keine Erfahrung gemacht. Ich habe den Eindruck man spricht nicht so richtig über Gagen. Aber ich kann es mir vorstellen.

Talida Wegener: Meine Erfahrung ist, dass das Prinzip von Angebot und Nachfrage immer noch greift, egal, ob „sie“ oder „er“. Aber hey!, ich sage nur Charlotte de Witte oder Amelie Lens.

Klaudia Gawlas: Natürlich habe auch ich diese Erfahrung schon öfter machen müssen. Eine erfolgreiche Frau verdient heute noch in unzähligen Berufen bei gleicher Stellung und Leistung weniger als der männliche Kollege. Das ist ja nun mal kein Geheimnis und leider auch bei uns noch so. Wir sollten uns alle mehr auf die tatsächlich relevanten Momente konzentrieren und nicht wegen des Geschlechts auf- oder abwerten.

Neben der unausgewogenen Bezahlung und der generellen Repräsentation sind Sexismus und Diskriminierung sicherlich die größten Probleme, denen man als Frau oder LGTBQ+-Person ausgesetzt ist. Wie geht ihr mit derartigen Vorfällen um?

ÜBERKIKZ: Ich lasse solche Dinge auf jeden Fall nicht unausgesprochen und mache sexistische und diskriminierende Vorfälle immer publik. Dank Instagram kommt das auch an und ich merke, dass es etwas bringt laut zu sein. In den meisten Fällen erhält man dann eine Entschuldigung – was wirklich das Mindeste ist.

Talida Wegener: Ich finde, die Frage ist hier zu verallgemeinert.  Es ist nicht gut, dass man davon ausgeht, dass es Sexismus und Diskriminierung per se gibt. Idioten gibt es überall, aber ich habe nicht das Gefühl, dass es überhand nimmt, um daraus ein Thema zu machen.

Kimmah: Sexismus und Diskriminierung kommen leider immer noch vor, und mit solchen Vorfällen konfrontiert zu werden, kann wirklich beängstigend sein. Heutzutage versuche ich, solche Vorfälle zu verhindern oder zumindest die Wahrscheinlichkeit dafür zu verringern. Wenn sich Veranstalter mit mir in Verbindung setzen, prüfe ich immer, ob mindestens eine andere Femme- oder Queer-Künstlerin auf dem Programm steht. Außerdem habe ich letztes Jahr ein „Safety Rider”-Konzept eingeführt, das ich Clubs und Veranstaltern vor der Bestätigung eines Bookings mitteile. Dieser Rider umreißt die Sicherheitsmaßnahmen, die ich brauche, um mich im Club und hinter den Decks sicher zu fühlen. Anfangs fühlte ich mich dadurch verletzlich, aber die Reaktionen und die Unterstützung von anderen Femme-Künstlerinnen, die vor ähnlichen Herausforderungen standen, waren sehr ermutigend. Im Gespräch mit einigen von ihnen fand ich heraus, dass solche Probleme in der gesamten Branche vorkommen, unabhängig vom Niveau der Künstlerin. Es hat mir sehr geholfen, darüber zu sprechen, den Dialog zu eröffnen und Bewusstsein zu schaffen.

Kimmah by Leroy Verbeet

Klaudia Gawlas: Nun zu aller erst sind Vorfälle und Diskriminierungen natürlich strafrechtlich zu verfolgen und grundsätzlich sollten die, die Schutz brauchen, diesen auch erhalten. Ich finde es wichtig, dass es die öffentliche Debatte gibt und dadurch Aufklärung betrieben wird. Wir Menschen, vor allem als soziale Eckpfeiler unserer Gesellschaft, müssen noch viel an uns arbeiten. Noch mehr müssen wir aber in die Kommunikation miteinander gehen. Sonst gibt es keine Verbesserung. Die Welt verändert sich gerade sehr schnell. Man bekommt das Gefühl, wir kommen alle nicht mehr hinterher, um an allen Ecken nachzujustieren.

Wo seht ihr den Handlungsbedarf hinsichtlich dieser Probleme und welche kurzfristigen sowie langfristigen Lösungen könnte es hierfür geben?

ÜBERKIKZ: Der größte Handlungsbedarf besteht meiner Meinung nach in der Selbstreflektion und der Empathie. Es sollte nicht immer von sich selbst ausgegangen werden, sondern versucht werden, sich in die Person Gegenüber zu versetzen. Ich bin eine Freundin von Kompromissen, denn jeder Mensch hat Bedürfnisse, die ihre Daseins-Berechtigung haben. So wie es für mich wichtig ist, dass meine Bedürfnisse erfüllt, oder zumindest gehört werden, so sollte es auch wichtig sein, dass die Bedürfnisse der anderen gehört und erfüllt werden. Deshalb sollten wir immer versuchen uns in der Mitte zu treffen. Wenn wir mehr in dieses Mindset investieren, könnte einiges besser werden.

Ich sehe aber auch viel Handlungsbedarf in weiblichen Kreisen. Wir sind nicht nur Opfer der Benachteiligungen, sondern selbst auch oft misogyn. Damit meine ich, dass Frauen sich gegenseitig als Konkurrentinnen sehen und gegeneinander kämpfen, nur um sich in einer männlichen Welt zu beweisen (siehe z.B. Pick-Me-Girls). Es ist aber wichtig, dass Frauen verstehen, dass wir einander unterstützen sollten, denn wir sind schwächer und verletzbarer, wenn wir nicht zusammenarbeiten. Jede Frau, die sichtbar und objektiv „erfolgreich“ ist, ist für mich ein Schritt näher in Richtung Gleichberechtigung. Ich versuche deshalb aktiv, Momente des Neids und der Missgunst zu reflektieren und aus dem Weg zu räumen, denn andere Frauen sind nicht meine Konkurrentinnen, sondern meine Verbündete. Ganz nach dem Motto: „Another woman’s beauty is not the absence of your own“ – ich liebe dieses Zitat!

Talida Wegener: Wie ich bereits sagte, ch sehe hier keine Probleme in dieser Hinsicht. Für mich ist eher ein Thema was für ein großes Haifischbecken unser Business geworden ist. Da leidet Männlein wie Weiblein. Hey! –  und was bitte ist los mit dem Hard-Techno? Macht mal den scheiß Musik-Geschmack zum Thema!

Kimmah: Es ist jetzt fast ein Jahr her, dass ich meinen Safety Rider vorgestellt habe. Seitdem habe ich von vielen Clubs und Veranstaltern in meinem Umfeld gehört, dass die Zahl der Künstlerinnen, Clubs und Organisationen, die den Safety Rider als Standard eingeführt haben, gestiegen ist. Ich glaube wirklich, dass dieser Safety Rider das absolute Minimum dessen ist, was ein Club oder Veranstalter tun sollte, um die Sicherheit der Künstlerinnen zu gewährleisten, und ich glaube, dass er langfristig zum Industriestandard werden sollte.

Klaudia Gawlas: Bildung, Empathie und Aufklärung sind für mich der Schlüssel. Wir müssen schon den Kindern sehr früh mit auf den Weg geben, was Menschlichkeit bedeutet. Sie müssen erfahren und damit aufwachsen, in einer freien, offenen, toleranten und rücksichtsvollen Welt zu leben. Aber auch wir Älteren müssen uns in der Vorbildrolle wahrnehmen. Miteinander statt gegeneinander.


Wir bedanken uns für die Beantwortung der Fragen und wünschen allen einen Happy International Women’s Day!