Gedanken eines DJs: Gordon (The Disco Boys) lässt Luft ab

gordon
Heute im Posteingang:
Die Gedanken eines DJs.

Ich dachte zuerst, es handele sich um SPAM oder eine dieser typischen Partyeinladungen, aber weit gefehlt.
Mein alter Bekannter und von mir durchaus geschätzter DJ Gordon Hollenga vom gehasst-geliebten Duo The Disco Boys hat Dampf abgelassen.

Worum es ihm geht, lest ihr am besten selbst.

REICHT DIR NOCH EIN DJ? ODER BRAUCHST DU SCHON EINEN ANIMATEUR?

Gordon Hollenga <xxxxxx@xxxxxx.de>

14:51 (vor 18 Minuten)

an Gordon
Moin Moin!

Das Gehirn vom Eiswasser gestählt. Die faule Haut hat Sonnenbrand. Sommerpause vorbei. Der Herbst kommt, und ich bin schon da. War was? Wir sind Weltmeister. Mutti hat geheiratet (und heißt nun anders als ich). Der Sommerdom 2014 ist Geschichte. Mein Wohnzimmer war in der Mopo. Die Open Air Saison liegt hinter uns. Im Juli und August haben wir eigentlich nur unter freiem Himmel gespielt, was toll war – aber nun freue ich mich auch total darauf, in die Clubs zurückzukehren.

Möge es laut und schmutzig werden! Möge der Schweiß von der Decke tropfen! Und mögen alle Mikrofone aus den Clubs verbannt werden! Genau wie Laptops und Smartphones sollten Mikrofone mit Hausverbot bedacht werden, wenn man zusammenkommt, um zu elektronischer Musik zu feiern. Wurden sie früher nur benutzt, um Durchsagen machen zu müssen wie „Der Wagen mit dem Kennzeichen HH-DB 171 blockiert die Einfahrt und wird bei Null gesprengt: 10. 9. 8. …“ oder „Marion Müller hat ihren Perso verloren. Vermutlich vorsätzlich. Wenn sie ihn trotzdem wiederhaben möchte, soll sie bitte zur Garderobe…“, so kommt es heute immer häufiger vor, dass DJs ausdrücklich ein Mikrofon bestellen. Meistens tun diese Menschen nur so als seien sie DJs; in Wahrheit handelt es sich dabei um Animateure, nur zwei Buchstaben von Amateur entfernt. Reicht es denn nicht mehr, einfacher DJ zu sein? Ist es so, dass die Skills, die man sich bei einer Ausbildung im Robinson Club angeeignet hat, heute viel wichtiger sind als die Eigenschaften, die einen guten DJ ausmachen? Muss man vielleicht direkt zur eierlegenden Wollmilchsau mutieren, die DJ, MC, LJ und VJ in einem ist?

Nach unserem Auftritt beim Kite Surf World Cup in Sankt Peter Ording tippte mich ein Typ an und fragte: „Bist Du Disco Boys?“. Ich schüttelte den Kopf (wohlgemerkt in voller Montur mit Schriftzug auf dem Rücken). Er so zu seinem Kumpel: „Ist er nicht!“. Irgendwann konnte ich nicht mehr vor Lachen und zappte im Hotelzimmer zum Runterkommen. Was ich dort entdeckte, brachte mich leider auf die Palme. Unfassbar: Das größte Fest der elektronischen Gemeinde feiert 20jähriges. Die alljährliche Zelebrierung der DJ-Kultur bei Eins Festival. Im! Öffentlich! Rechtlichen! Weil ich nicht live dabei sein konnte, wollte ich mich gerne spontan an dem Laben, was die Flachbild-Konserve zu bieten hatte. Einblendung: Danny Avila. Oho. Interessant. Viel gehört von ihm. Noch nie live on stage gesehen. Offen für alles. Aber nicht für „Put Your fucking Hands up“ alle 30 Sekunden! Ein Dirty-Dutch-Basslauf jagt den nächsten. Struktur? Dramaturgie? Fehlanzeige. Dies ist Peaktime bis ans Limit. Ohne Pause jagt ein Tanzbefehl den nächsten. Springen. Hinsetzen. Hände hoch. Auf den Tisch klettern. Arme links. Arme rechts. Köpfchen unters Wasser. Schwänzchen in die Höh‘. Endlich kommt Spezialgast MAKJ. Es wird noch schlimmer. „Put Your Fucking Hands Up“ alle zehn Sekunden. Warum nimmt denen keiner das Mikrofon weg? Werner Griese, wo bist du? Darf ein 19jähriger überhaupt „Smells Like Teen Spirit“ auflegen? Und wenn ja: Warum? Auf der Nature One? Ausgerechnet? Ich fasste es nicht, konnte nicht schlafen, auch den Gute-Nacht-Kuss für meine Freundin vergaß ich. Bei einem unserer Sets auf der Nature One hatte ich beinahe einen Shitstorm ausgelöst, weil ich zu Beginn ein Mash Up von „Sweet Dreams“ und „Just Dance“ auflegte. Demzufolge müsste Danny Avila mit seiner Leistung einen regelrechten Fäkalien-Tornado heraufbeschworen haben, dachte ich so, absolut geschockt und bewegungsunfähig.

Aber seht selbst: www.youtube.com/watch?v=RD9TdU1m0vM – oder lasst es lieber bleiben. Denn hier wird weder DJing betrieben noch elektronische Musikkultur zelebriert. Hier wird animiert auf Teufel komm‘ raus. Hier wird zerfeiert bis auch der letzte seine „fucking“ Hände hochgehoben hat. Einfach nur nervig – und schade, dass ein solches Ballermann-Animations-Programm eine solche Bühne bekommt. In meinen Augen hat diese Art von Unterhaltung auf einem Premium-Event wie der Nature One nichts verloren, sondern gehört eher in die Großraumdisko an der Autobahn oder auf den nächsten Karneval. Und ich bin nicht allein, auch Sinan ist ganz meiner Meinung (Danke für diesen Link, Mike Hasemann!): www.youtube.com/watch?v=coduTcbn1VU

Aber was soll’s – Danny Avila macht einfach geil Party. Das ist doch was! Wenige Wochen zuvor waren wir zu Gast beim Bayao Summer Dance im Stadion von Rot-Weiß Essen. Und was soll ich sagen: Wir waren die einzigen DJs, die nicht zum Mikrofon griffen. Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom. Warum machen, was alle machen? Die gutgelaunte Meute machte doch auch so ganz wunderbar mit. Vielleicht war der eine oder andere im Publikum sogar dankbar, dass er nicht auch von uns die ganze Zeit zu irgendetwas aufgefordert wurde. Denn auf Dauer kann das anstrengend sein. Schließlich ist man zusammengekommen, um miteinander Spaß zu haben – und nicht um gebrüllte Befehle zu befolgen oder gezwungen zu werden, schlimme Lieder mitzusingen? Ist das etwa eine Folge der eingestellten Wehrpflicht? Junge Leute brauchen Orientierung, brauchen jemanden, der ihnen sagt, wo es langgeht – oder zumindest, wann sie ihre „fucking“ Hände in die Luft heben sollen? WTF?!

Kann auch sein, dass der DJ sich des Mikrofons bedient, um mangelnde Mixing-Skills zu verdecken (in 98% der Fälle wird in den Übergang gequatscht), oder um die heutzutage schnell gelangweilten Leute vorm DJ-Pult überhaupt zu irgendeiner Reaktion zu animieren (weil es so schön ist: „Put your Fucking Hands up!“). Es werden Rituale aus dem Heavy Metal („Stagediving“), Punk Rock („Wall Of Death“) oder Fussball („Hinsetzen!“, auch bekannt als „Sit Down“) auf die Tanzfläche importiert. Wie im Cinemaxx muss heutzutage anscheinend alles Event-Charakter haben, sonst ist es langweilig und schlichtweg keinen Klick oder gar einen Besuch wert. Der Besuch von elektronischen Musikveranstaltungen aller Art wird anstrengend. Die Gäste sind gefordert. Schließlich will man den vermeintlichen Höhepunkt auf seinem Smartphone für die Ewigkeit oder zumindest die Facebook Chronik festhalten.
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STEVE AOKI starring in „MISSING IN ACTION“:
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www.facebook.com/video.php?v=705822469488745
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So war beim SMS Festival für viele der Auftritt von Steve Aoki am Freitag Abend (als ich zeitgleich mit Avila im Bett in Sankt Peter Ording lag) das Highlight, denn endlich passierte etwas – nicht nur auf der Bühne sondern auch im Publikum. Es wird Teil des Ganzen. Es soll mitmachen. Es wird mit Kuchen beworfen. Es dient dem Künstler als See für seine Schlauchbootfahrt. Es macht ein #selfie. Es ist seit drei, vier Jahren stets dasselbe – wie die Show von Lexy & K-Paul. Oder die der Disco Boys. Aber dadurch dass wir einfach nur Auflegen müssen wir uns an nichts halten. Den musikalischen Rahmen stecken wir selber. Wir können spielen, was wir wollen und gut finden. Wir genießen die musikalische Freiheit, die sich jeder DJ bewahren sollte – auch wenn wir bisweilen optisch nicht immer etwas Neues zu bieten haben. Ist es noch Animation, wenn ich „For You“ in meine Haarbürste singe? Oder ist das schon Entertainment?

Das Wichtigste für jeden DJ ist sein Publikum. Wenn niemand da ist, um sein Können zu würdigen, nützt die abgefahrenste Moderation genauso wenig wie die heißesten Tracks der Saison. Darum ist es an der Zeit eine Lanze zu brechen für die Menschen, die in die Clubs pilgern und auf die Festival. Für die Fans, die Tickets kaufen, bis es keine mehr gibt. Die immer und überall gute Laune verbreiten. Die jede noch so stupide Animation des DJs dankbar annehmen, die aber auch jeden geilen Track mit Szenenapplaus bedenken. Die sich mit lustigen, thematisch passenden Schildern („Endlich normale Leute!“ – „Geile Stelle!“ – „Gordon, ich will ein Bier von Dir!“) in die erste Reihe drängeln – und es so den Mikrofon-Befehlshabern auf ihre Art zurückzahlen. Es ist eine Revolution auf der Tanzfläche in Gang! Ich begrüße das und schmunzle darüber. DJs sollten sich endlich wieder auf das konzentrieren, wofür sie da sind: Mittels der korrekten und kreativen Musikauswahl und einem vernünftigen Übergang für gute Stimmung im Haus oder Zelt zu sorgen. Alles andere – wie Konfetti-Shooter, Pyrotechnik oder ins Mikrofon gebellte Handlungsaufforderungen – sollten wir lieber denen überlassen, die sich damit auskennen wie zum Beispiel H.P. Baxxter.

Ich lege auf – und freue mich, Dich begrüßen zu dürfen!

Gordon

Was sagt ihr dazu? Hat der alte Hanseat Recht oder ist er einfach nur frustriert, weil er nicht mehr auf Nature One und SMS spielt?

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