Joep Beving – Das Konzept der Schönheit

Credit: Rahi Rezvani

  

Der niederländische Pianist und Komponist Joep Beving gehört zu den Durchstartern der zeitgenössischen Klassik, sein Debütalbum „Solipsism“ (2015) war eine viraler Hit, seine Stücke wurden bisher über eine halbe Milliarde Mal gestreamt. Nun erscheint mit „Hermetism“ sein viertes Album, mit dem er auch wieder Antworten auf komplexe philosophische Fragen sucht. Ein Ausflug in die Ontologie, Metaphysik und die Belle Époque.

Hallo, Joep, wie geht es dir und was machst du gerade?

Hi, mir geht’s gut, wenn auch mit schwerem Herzen. Ich denke, das gilt für die meisten von uns. Aber danke, dass du fragst.

Du und deine Musik, ihr seid von der antiken (griechischen) Philosophie inspiriert. Wie kam es dazu, wie bist du dort gelandet und was fasziniert dich daran so sehr?

Meine Hauptinspiration ist unsere Beziehung zur Realität. Ich hatte schon immer eine besondere Faszination für Ontologie und Metaphysik, eine Neugierde auf das, was jenseits unserer begrenzten Sinneswahrnehmung liegt. Ich habe festgestellt, dass vieles von dem, was als Neoplatonismus bezeichnet wird, bei mir Anklang findet und mein Denken weiter beeinflusst hat. Ein weiterer Aspekt der griechischen Philosophie ist die Ästhetik. Die Schönheit ist, neben dem Guten, der Wahrheit und der Gerechtigkeit, einer der höchsten Werte. Durch das Konzept der Schönheit ist es mir gelungen, mich wieder mit der Welt um mich herum und der Realität im Allgemeinen zu verbinden. Es war der Ausgangspunkt meines Lebens als Komponist und Künstler.

„Hermetism“ heißt dein neues Album. Wie kam es zu diesem Titel, inwieweit fließt diese Lehre auch in dein Leben ein?

Hermetismus sind die Lehren des mythischen Hermes Trismestigos, einer Verschmelzung des griechischen Gottes Hermes und des ägyptischen Gottes Thoth. Eine Prophezeiung in Form von sieben universellen Gesetzen, die uns schon seit Tausenden von Jahren begleitet. Als ich diese Gesetze studierte, strahlten sie ein Gefühl der Wahrhaftigkeit aus und sie stimmten einfach mit meinem tieferen intuitiven Verständnis des Lebens überein. Die Gesetze geben der Wissenschaft Orientierung und lehren uns, wie wir leben sollen. Sie sagen uns, dass das Universum nach Gleichgewicht und Harmonie strebt. Eine weitere Bedeutung des Hermetismus ist die Selbstisolierung von der Gesellschaft, um Einsichten zu gewinnen. Die Welt ist nun schon seit fast zwei Jahren abgeschottet. Das war für viele traumatisch, aber auch eine dringend benötigte Pause. Eine Gelegenheit, nachzudenken und zu erkennen, welche Dinge im Leben wirklich wichtig sind. Das Ergebnis, das wir gesehen haben, ist leider eher eine Polarisierung und ein Ungleichgewicht als ein wachsendes Einfühlungsvermögen und gegenseitiges Verständnis. Zumindest ist es das, was wir an der Oberfläche der Dinge wahrnehmen. Der Hermetismus lehrt uns auch, dass dem Ausmaß an Dunkelheit, das wir wahrnehmen, ein ebenso großes Ausmaß an Licht gegenüberstehen sollte. Ein hoffnungsvoller Gedanke, auf den wir in diesen düsteren Zeiten nicht verzichten können.

Seit 2015 hatte ich das Glück, drei thematisch zusammenhängende Alben zu schaffen. Die Themen, die ich als Inspiration verwendet habe, sind alle im Hermetismus präsent. Mit diesem Album reflektiere ich meine Trilogie und teile die Gedanken, die ihr zugrunde liegen, indem ich einfach jede*n einlade, der sich eingeladen fühlt, etwas über diese Lehren zu lernen und hoffentlich irgendwie in diesem Leben von ihnen zu profitieren.

Darüber hinaus hast du auch die Stadt Paris als Thema aufgegriffen, auch als „Metapher für die westliche Zivilisation“, aufgrund der Ereignisse der letzten Jahre. Wie siehst du auf dieser Grundlage die Zukunft (nicht nur dieser Stadt)?

Es ist ein zweischneidiges Schwert. Der Schnitt auf der einen Seite kommt von der Erkenntnis, dass die westliche Zivilisation angegriffen wird. Der Angriff kommt zum Teil von außen, von weniger liberalen und weniger demokratischen Kräften. Er kommt aber auch von innen, vom Faschismus, von Anti-Establishment-Gruppen, vom Neokonservatismus und Nationalismus. Wir haben beide Kräfte in Paris am Werk gesehen, aber mehr noch in Europa und den USA, auch in Australien und in gewissem Maße in Brasilien. Die andere Seite sind die Nachwirkungen des Imperialismus, die Umarmung des Kapitalismus und die ökologische Krise, die sich daraus entwickelt hat.
Ich habe Paris als romantische Idee gewählt. Nicht absichtlich, aber auf eine nostalgische Art und Weise. Ich bin mir der großen Ungleichheiten der Belle Époque bewusst. Aber ich fühle mich auch nostalgisch zu einer Epoche hingezogen, in der Schönheit einen Platz in der Kunst hatte und der Tanz zwischen Dunkelheit und Licht so beredt schien.

Wie sehe ich also die Zukunft? Lass mich bei dem positiven Gedanken bleiben, dass ich immer noch an eine offene Geisteshaltung glaube, an eine westliche Zivilisation, die nicht auf Ansprüchen beruht und bereit ist, an Koexistenz, Empathie und Zwischentönen festzuhalten. Eine zivilisierte Welt. Eine zivilisierte Welt, die die Bedürftigen willkommen heißt und offen ist für die Bedürfnisse unseres Planeten und seiner Bewohner und entsprechend handelt. So wie ich es täglich in meinem algorithmischen Trichter erlebe.

Mit deiner Musik möchtest du aus der Melancholie Hoffnung wecken. Inwieweit bist du ein melancholischer Mensch oder bist du davon beeinflusst?

Ich habe das schon einmal gesagt, aber ich glaube, dass Melancholie das menschliche Grundgefühl ist. Es ist die Kombination aus einer immerwährenden Traurigkeit als Folge des unausgeglichenen Lebens, das wir leben und sehen, und dem Element der Hoffnung, das uns glauben lässt, dass wir uns auf einen besseren Ort zubewegen. Ohne Hoffnung wäre Melancholie eine Depression.

Wie kann man sich deine Arbeit mit dem Klavier vorstellen? Brauchst du Abgeschiedenheit, hast du einen sehr regelmäßigen Arbeitsablauf oder bist du immer an einem bestimmten Ort?

Heutzutage brauche ich völlige Abgeschiedenheit. Früher konnte ich am besten in Anwesenheit von geliebten Menschen schreiben, in meinem Haus. Aber das Klavier, das ich dort habe, spricht nicht in einer Weise mit mir, dass ich mich inspiriert fühle. Deshalb bin ich jetzt meistens in meinem Studio, wo ich das Klavier meiner Großmutter habe, das mir meine Stimme gegeben hat. Ich habe keinen regelmäßigen Arbeitsablauf. Tatsächlich vermisse ich das sehr, Komponieren ist für mich wie Meditation. Ich tue es zu wenig, vielleicht, weil ich zu viel davon erwarte.

Musikmachen als Mittel gegen die Pandemie: Was waren deine persönlichen Erfahrungen in den letzten zwei Jahren?

Die anfängliche Aufregung über eine neue, weltweit geteilte, plötzliche Veränderung unserer erlebten Realität, die sehr inspirierend war, hat sich langsam in einen eher alptraumhaften Wirbel festgefahrener Gedanken verwandelt, die mir die Inspiration raubten. Ich vermisste die kollektive Energie von Konzerten, von Gesprächen über etwas, das sich vorwärts und nach oben bewegt. Ich habe es jedoch sehr genossen, Zeit mit meiner Frau und meinen Kindern zu verbringen, und in diesem Alter in ihrem Alltag anwesend zu sein, war ziemlich unbezahlbar.

Musik sollte die Menschen emotional berühren, und das gelingt dir sehr gut. Dafür gibt es wahrscheinlich kein Rezept, oder?

Haha, na ja, offen sein, sich nicht durch überzogene Rationalisierungen in die Quere kommen lassen. Man muss sich trauen, Ausnahmen zu machen und sein Ego vor der Tür zu lassen.

Du hast deine Werke oft von zeitgenössischen elektronischen Künstler*innen remixen lassen. Ist das auch für „Hermetism“ geplant? Wie wählst du die Künstler*innen aus, welche Anforderungen stellst du an sie und an die Remixe?

Mein Gedanke beim Remixen oder Neuinterpretieren ist, dass die Musik ihren eigenen Willen hat. Sie war schon immer da und wird immer wieder in neuen Formen auftauchen und wie ein Organismus wachsen. In diesem Sinne sollten Remixe wirklich die Essenz nehmen und sich in etwas Neues verzweigen – derselbe Geist, andere Form oder Stimmung. Ich wähle Leute aus, die ich bewundere und von denen ich glaube, dass sie eine Verwandtschaft mit der Musik haben. Auf jeden Fall sollte es keine bloße Wiederholung dessen sein, was schon da war.

Wie würdest du deine Verbindung zur elektronischen Musik im Allgemeinen beschreiben?

Ich denke, ich bin in erster Linie ein elektronischer Künstler. Ich habe nur noch nicht geliefert (schmunzelt). Mein Studio besteht hauptsächlich aus analogen Synthesizern, Mikrofonen und Effektpedalen. Ich liebe Synthesizer und neige zu experimenteller elektronischer Musik ebenso wie zu klassischer. Ich bin ein großer Fan von Künstlern wie Floating Points oder Four Tet und stehe total auf schräge japanische Synthesizer-Sachen. Es ist ein anderer Vibe, aber definitiv einer, der einen großen Teil von mir ausmacht. Ich hoffe, dass ich eines Tages in der Lage sein werde, meine Geschichte in dieser Sprache zu erzählen.

Deine Pläne und Wünsche für den Rest des Jahres?

Frieden!

Aus dem FAZEmag 122/04.2022
Text: Tassilo Dicke
Credit: Rahi Rezvani
www.joepbeving.com