Kazuya Nagaya – Traumdeutungen in neuem Gewand

Fotocredit: Michinori Kitano

Seit der Veröffentlichung seines ersten Albums „Utsuho“ im Jahr 1999 hat Kazuya Nagaya Musik für eine Reihe von Projekten komponiert, die von der Zusammenarbeit mit tibetisch-buddhistischen Mönchen bis hin zu einem Remix für Plastikman reichen. Nagaya verwendet Bronzeglocken, Gongs und Klangschalen, die meist in buddhistischen oder hinduistischen Ritualen in Tibet, Bali und Japan verwendet werden. Er schafft dabei einzigartige und international hochgeschätzte Ambient-Stücke, indem er diese in vielen Kulturen als heilig geltenden Instrumente mit moderner Technik mischt. Im Februar 2020 erschien mit „Dream Interpretation“ sein elftes Album auf dem Techno-Label SCI+TEC von Dubfire (alias Ali Shirazinia). Darauf thematisiert Nagaya Träume, die ihn über Jahre hinweg beschäftigt haben und an die er sich ungewöhnlich gut erinnern kann. Zahlreiche Kritiken weltweit feierten das Album. Nun ist das offizielle Remix-Album mit Interpretationen von VRIL, Steve Rachmad, Markus Suckut, Yotam Avni und vielen mehr am 23. April 2021 als marmorierte 3LP erschienen.

Generell ist seine Musik verwurzelt in Philosophien und Empfindungen, die einzigartig in Japan sind. Sowohl der japanische Buddhismus – wie z.B. Zen – als auch Japans exquisite künstlerische Ausdrucksformen wie Tuschemalerei und Haiku legen großen Wert auf extreme Einfachheit, die völlig frei von Ornamenten ist. Und in der Tat drücken sie in ihrer Einfachheit paradoxerweise die Tiefe ihrer Spiritualität aus. In diesem Sinne zielt auch die von Kazuya Nagaya produzierte Ambient-Musik darauf ab, dem Hörer gerade durch ihre Einfachheit die Tiefe des Geistes zu vermitteln. Und so war sein Album vor etwas mehr als einem Jahr, wenn man es genau nimmt, eine gekonnte und delikate Ambient-Erkundung, die sich nahtlos in ähnliche Erkundungen einfügt. Glücklicherweise ist es auch ein Album, das es schafft, Wärme und Intimität mit einer Art weitläufiger Melancholie auszubalancieren, ähnlich wie die Traumlandschaften, die die Tracks selbst hervorrufen. Gleichzeitig sind seine Arbeit und Interessen aber auch zeitgenössisch und durchqueren ein breites Spektrum von Kulturen.

Dies hat nicht nur dazu geführt, dass er mit einer Vielzahl von Kollaborateuren zusammenarbeitet, darunter tibetisch-buddhistischen Mönchen, hawaiianischen Kahuna, Künstlern wie Richie Hawtin und Iris Van Herpen – sondern auch, dass er regelmäßig auf gefeierten Festivals wie MUTEK.JP, MUTEK.MX und Today‘s Art spielt. Darüber hinaus ist er auch preisgekrönter Schriftsteller und ein Kenner der japanischen Literatur, buddhistischer Volksmärchen und philosophischer Zen-Werke. Diese Interessen hauchten seiner Musik Leben ein, und die Sensibilität sowie die philosophischen Ansichten, die er während seiner literarischen Jahre entwickelte, spiegeln sich heute in den meisten seiner Stücke wider. Kazuya Nagaya verbringt die Hälfte der Woche damit, Kurse an seiner Universität in Tokyo zu geben. In der anderen Hälfte komponiert und schreibt er in seinem Haus in den japanischen Alpen, wo er mit seiner Frau und vielen adoptierten Katzen und Hunden wohnt.

Kazuya, wie geht es dir in diesen verrückten Zeiten?

Naja, mein Leben ist größtenteils dasselbe wie vor der Pandemie, da ich in den Bergen mit viel weniger Menschen als in den Städten lebe. Ich komponiere, koche und gehe täglich mit meinen Hunden spazieren. Zum Glück habe ich mehrere Projekte, die mich mit dem Komponieren und Arrangieren für andere Künstler beschäftigen.

Das Release von „Dream Interpretation“ liegt nun etwas mehr als ein Jahr zurück. Wie reflektierst du das Release rückblickend?

Ich habe das Gefühl, durch das Album viel mehr Hörer auf der ganzen Welt als vorher zu haben. Und was meine Gedanken angeht, würde ich sagen, sie haben sich verändert. Ich war irgendwie erleichtert, nachdem ich diese Träume, die mich doch schon sehr intensiv begleitet haben, in Musik verwandelt und dann veröffentlicht hatte.

Vor dem Release hattest du bereits das Gefühl, dich irgendwann deinem Unterbewusstsein stellen zu müssen. Würdest du nun mit etwas Abstand behaupten, dass vollends aufgearbeitet zu haben?

Das ist eine sehr schwer zu beantwortende Frage. Schließlich kann niemand wirklich behaupten, sein Unterbewusstsein vollständig zu verstehen. Allerdings habe ich das Gefühl, dass ich dem Unbewussten damit näher gekommen bin. Ich habe das Gefühl, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

Wie wichtig ist es generell in deinen Augen – nicht nur als Künstler, sondern auch als Mensch – auf das „Klopfen an der Tür des Geistes“ zu hören?

Zunächst einmal kann ich meine Denkweise nicht verallgemeinern, denn manche Menschen haben es wahrscheinlich gar nicht nötig, über diese Art von Dingen nachzudenken. Sie nehmen ihre Träume nicht ernst und erinnern sich nicht einmal an sie, aber ihr Leben läuft trotzdem gut. Auf der anderen Seite gibt es Menschen wie mich, die unbedingt versuchen müssen zu verstehen, was ihr Unbewusstes ihnen sagt, besonders wenn sie feststecken, sich deprimiert fühlen, den Lebensgrund verloren haben, einen Unfall haben, sich scheiden lassen oder Ähnliches. Das sind alles Anzeichen dafür, dass ihr Unterbewusstsein möchte, dass sie ihr Leben ändern. Dann empfehle ich ihnen dringend zu versuchen, auf ihr Unterbewusstsein zu hören. Ich bin fest davon überzeugt, dass das der erste Schritt zur Besserung bedeutet.

Würdest du sagen, der Dialog mit deinem Unterbewusstsein hat dich verändert?

In Bezug auf meine Musik, definitiv. Als ich anfing, dieses Album zu machen, dachte ich, dass ich eine Musik komponieren möchte, die die Hörer lieben würden, statt irgendeinen Kram, den ich selbst komponieren wollte. Also habe ich mein Ego beiseitegeschoben und nur an die Hörer gedacht. Wie auch immer das Album entstanden ist, ich habe festgestellt, dass es das ist, wonach ich gesucht habe und was ich versucht habe zu komponieren. Es ist ein Gegenpol. Vielleicht sollten wir uns selbst vergessen und unsere Egos loslassen, um das zu finden, wonach wir suchen. Auch als Künstler habe ich mich ein stückweit verändert, ja. Denn seit geraumer Zeit habe ich mich dazu entschlossen, auch Musik für andere zu komponieren. Ich versuche, sie glücklich zu machen.

Du bist nicht nur Musiker, sondern auch preisgekrönter Schriftsteller und tief in der japanischen Literatur verwurzelt. Wie, würdest du sagen, hat dieser Bereich deine Musik bis dato beeinflusst?

Enorm. Eines der einflussreichsten literarischen Werke für mich ist „Utsubo monogatari“, geschrieben zwischen dem zehnten und elften Jahrhundert. Der Wortstamm des Titels ist „Utsu“, was „Leere“, aber auch „Existenz“ bedeutet. Zum Beispiel nennen wir Depressionen im Japanischen „Utsu“, weil Melancholiker das Gefühl einer Leere empfinden. Obwohl „Utsu“ auch das genaue Gegenteil bedeuten kann. „Materie ist Leere, Leere ist Materie“, wie Buddha sagt. Was ist dann mit Klang und Stille? Klang ist Materie, Stille ist Leere. Sie sind ein- und dasselbe. Aber wie fühlst du Stille, wenn du von Klang umgeben bist? Wie hörst du Klang, wenn du von Stille umgeben bist? Klang verschmilzt mit dem Meer der Stille. Weite Stille erhebt sich aus einem winzigen Ton, wie ein Glockenklang. Der lange Nachhall des Glockenklangs führt uns in das Reich der Stille. Das ist eine innere Leere.

Bei einem, wie Dubfire sagt, „Sake-getränkten Abendessen“ in Yokohama entstand die Idee zu einem großen Remix-Album mit illustren Namen. Wie ist deine Verbindung zu Ali generell?

Wir haben uns vor einigen Jahren kennengelernt, seitdem halten wir Kontakt. Eines Tages fragte er mich, ob ich ein neues Stück hätte, das er sich anhören könnte, also schickte ich ihm das Demo von „Dream Interpretation“, das ich gerade fertiggestellt hatte. Dann hat er mir das Angebot gemacht, es bei SCI+TEC zu veröffentlichen. Seitdem arbeiten wir zusammen. Ich bin sehr glücklich darüber und habe mich auch über die unglaublich schönen Cover-Arts gefreut, die die polnische Künstlerin Joanna John für uns gezeichnet hat. Ali ist so ein toller Mensch, sanft, bescheiden und friedvoll. Und ich brauche nicht zu sagen, ein talentierter, großartiger Komponist. SCI+TEC ist ein großartiges Label und die Labelmanagerin Marina Zakharevitch, die sich um so gut wie alles kümmert, ist so ein wunderbarer Mensch.

Wie würdest du deine Emotionen und Gefühle beim Anhören der fertigen Arbeiten beschreiben, nachdem sich Künstler deiner doch sehr intimen Träume angenommen haben?

Ich war einige Male sprachlos, um ehrlich zu sein. Ich schätze es wirklich sehr, dass solch großartige Musiker meine Songs remixen. Es ist genau eine andere „Interpretation“ meiner Träume. Sie haben meine Träume quasi auf ihre eigene Art und Weise interpretiert, was zu erstaunlichen Ergebnissen geführt hat. Träume sind eine interessante Sache, besonders, wenn wir darüber sprechen, finde ich. Übrigens hat mir ein Freund vor einigen Jahren den Traum eines Freundes von ihm erzählt. Sein Freund ist ein polnischer Komponist, den ich überhaupt nicht kenne. Der Traum nahm für ihn so viel Bedeutung ein, dass er sein Leben veränderte. Und eines Nachmittags, einige Jahre später, ging ich mit meinen Hunden spazieren und erkannte plötzlich, dass der Traum eine Prophezeiung über mich selbst war, ob ich es glaubte oder nicht. Es gibt einen geheimnisvollen Weg, auf dem Träume kommen und gehen, jenseits von Individuen und Zeit. Jemand sieht vielleicht einen Traum, der mit dir in Verbindung steht. Vielleicht sieht man aber auch einen Traum stellvertretend für jemand anderen.

Aus dem FAZEMAG 110/04.2021
Text: Triple P
Foto: Michinori Kitano
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