Phil Kieran – Ganz großes Kino

Foto: Carrie Davenport

Er arbeitete bereits mit Legenden wie Agoria, Green Velvet, Roman Flügel, Nitzer Ebb und Depeche Mode zusammen: Phil Kieran. Bei all den illustren Kollaborationen, die der Musikproduzent, Filmkomponist und DJ neben seinem immensen Backkatalog in der Vita stehen hat, gerät fast schon in Vergessenheit, dass der Nord-Ire selbst eine absolute Koryphäe der Branche ist. Das belegen nicht nur unzählige Beiträge auf Labels wie Cocoon, DMC, EMI, Hot Creations, Yoshitoshi und seinem hauseigenen Imprint Phil Kieran Recordings, sondern auch seine renommierten Soundtracks für Film, Theater, TV und Radio. Für sein neuestes Werk – ein geniales Konzeptalbum – hat sich der Tausendsassa einer Hommage an das Art-Deco-Kinogebäude The Strand gewidmet, in dem seit fünf Jahren jenes Aufnahmestudio beheimatet ist, das als Geburtsstätte seiner mitreißenden und epochalen Produktionen fungiert. Wir haben mit Phil Kieran über sein bisher ehrgeizigstes und persönlichstes Projekt gesprochen.

Wer sich die LP zu Gemüte führt, der wird in erster Linie von ambienten, experimentellen Soundscapes in Empfang genommen, die als Fingerzeig auf Kierans ungebrochene Hinwendung zu cineastischen Klängen zu interpretieren sind. Doch das Album bietet auch Techno- und Dancefloor-Potenzial, was die herausstechende Single „Atlantic“ eindrucksvoll beweist. Über deren Rolle auf dem neuen Werk „The Strand Cinema” sagt er: „Der Track hat einen eindeutigen 4/4-Puls, und ich wollte ihn selbstbewusst und absichtlich hervorheben.  Die Melodien haben ein starkes positives Gefühl, das mich an den frühen Acid-House erinnert. Ich hoffe, dass die Hörer*innen mit diesem Album auf eine kleine Reise gehen und auf ihrem Weg Verbindungen von der Tanzmusik zur zeitgenössischen klassischen und experimentellen elektronischen Musik herstellen.”

Bestandteil dieser „kleinen Reise”, die in Wahrheit eine ganz große ist, sind auch elf visuelle Künstler*innen, mit denen Kieran seine Kräfte vereinte, um die einzelnen Stücke des Albums in gleichermaßen optische wie akustische Kunstwerke zu verwandeln – stets mit dem Ziel vor Augen,  „The Strand Cinema” als bildgewaltige A/V-Show in seinem geliebten Kino austragen zu können: „Ich träumte davon, eine Art Live-Show zu spielen.  Da ich in einem Kino arbeitete, machte es Sinn, eine A/V-Show mit projiziertem Film zu kreieren. Also rief ich visuelle Künstler auf, ein Stück zu einem ausgewählten Track zu kreieren, so dass sie wie separate Szenen oder Musikvideos wirken, die zusammengefügt die endgültige Show bilden. Die Zeitachse führt durch die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, wobei das Kino und das Gleichgewicht zwischen Natur und Technologie als lose Bezugspunkte dienen”, so der 44-Jährige über den konzeptionellen Ansatz des Werks.

Die Erforschung der Balance zwischen Natur und Technologie also: Ein Sujet, das immer wieder Verwendung in komplexeren (elektronischen) Musikprojekten findet und mit dem rasanten technologischen Wandel zusehends an Bedeutung, aber auch an Problematiken gewinnt. Kieran erklärt: „Wir treten in eine neue Epoche ein, in der Computer und künstliche Intelligenz zum ersten Mal menschliche Tätigkeiten ersetzen können. Aber wir können nicht einfach blind in eine neue Ära gehen, ohne nachzudenken und aktiv zu entscheiden, welche Beziehung oder welches Gleichgewicht wir zwischen Natur und Maschinen wollen. Der Einsatz von KI nimmt derzeit rasant zu, aber es gibt Musik, die sich davon nur schwer beeindrucken lässt und immer schon dieses raue Gefühl in sich trug. Techno ist so etwas, oder Punk.”

Einen kleinen Seitenhieb in Richtung David Guetta kann sich Kieran hinsichtlich der Thematik abschließend dann nicht verkneifen: „David Guetta liebt AI. Natürlich liebt er es, denn die Leute kopieren schon seit Jahren eine Formel oder Schablone als Abkürzung zum Erfolg.”

Und Phil Kieran? Der nimmt mit seinen aufopferungsvollen und leidenschaftlichen Produktionen weiterhin die lange Route. Dabei hat er das Ziel doch längst erreicht.

„The Strand Cinema” ist am 24. März via Phil Kieran Records auf Vinyl erschienen.

Aus dem FAZEmag 134/04.2023
Text: Hugo Slawien
Foto: Carrie Davenport
www.philkieranmusic.com