Plastikman – EXultant

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Es ist Freitagabend beim Glastonbury, das mit 180.000 Besuchern zu den größten Festivals der Welt zählt. Die Sonic Stage ist ein riesiges, architektonisch ambitioniertes Sonnensegel auf dem Dance Field und bedeckt Hunderte schwitzende Raver, die die Zeit ihres Lebens haben. Ihre Gesichter werden von den Blitzen eines Stroboskops beleuchtet, während eine dünne Figur in einem schwarzen, ärmellosen T-Shirt unermüdlich hinter dem Mischpult arbeitet. Das DJ-Set von Richie Hawtin erreicht seinen Höhepunkt. Er hat die Crowd durch seidenartigen, melodischen House zu intensivem, hämmerndem Techno, der an seine industriellen Sets aus den 90ern grenzt, geführt. Aber am Ende reduziert sich der Sound in zusammenfallende Geräusche, ein paar Minuten Echoes, Töne und auflösende Drum Patterns, erdrückt von dem Jubel des feiernden Pulks. Es erinnert an die Art, in der das neue Plastikman-Album „EX“ – nach elf Jahren Hawtins aktuelles Release unter diesem Namen – mit den Erwartungen der Hörer bricht. Er ist kein gradliniger Club-DJ, und „EX“ ist kein gradliniges Club-Album. Hawtin hat ein Werk erschaffen, das sich Dynamiken in größerem Stil bewahrt. Vor allem aber baut „EX“ auf Plastikmans Ruf auf, Techno in neue Richtungen zu entwickeln.

Ein Tag zuvor: Richie Hawtin schaut sich die Umgebung an. Ein opulenter Tourbus, in dem er für die Zeit des Glastonbury Festivals wohnen wird. „Wir machen es dieses Jahr wie beim Rock ’n’ Roll“, sagt er lachend. Mit 44 ist er eine ruhige, aber begeisterte Person. Er befindet sich in der Oberliga elektronischer Musik, ein bekannter Name, der sich auf Postern für Clubs und Festivals ganz weit oben befindet. Nebenbei leitet er zudem die ENTER-Partyreihe auf Ibiza. Im Moment geht Richie aber nur sein neues Album, das sechste unter dem Namen Plastikman, durch den Kopf. Es entstand innerhalb von fünf Tagen während eines außergewöhnlichen Auftritts bei der jährlichen Benefizveranstaltung des Guggenheim, New Yorks weltbekanntem Kunstmuseum. Richie Hawtin wurde von Raf Simons, dem Creative Director von Dior, eingeladen. Simons sagt über sich selbst, dass er Hawtins Musik anhört, wie andere Klassik. Die Show war ein großer Erfolg, in der Mitte stand ein gewaltiger LED-Obelisk. „Die Menschen im Guggenheim waren verrückt nach Musik, Kunst, Mode und wollten wissen, wie die bunte Truppe zusammengebracht wurde. Viele Leute haben sich unterhalten, aber sobald wir mit dem Konzert anfingen, wandelte sich der Smalltalk in Gespräche darüber, was gerade passiert. Ein Teil der Schönheit entstand dadurch, dass der Gig nicht auf einen Club zugeschnitten war und der Monolith, der nebendran stand, eine Kunstinstallation war. So richtete sich die Diskussion darauf, was elektronische Musik war, ist oder sein kann“, erinnert sich Richie an seine Zeit in New York.

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Trotzdem lässt „EX“ frühere Plastikman-Werk nicht etwa abseits liegen, wie manche vor dem Release befürchtet hatten. „Das Projekt hat sich nicht komplett von der Vergangenheit abgewandt“, stimmt Richie zu. „Plastikman muss Kontinuität haben. Jedes Album muss an den Ethos und die Stimmung der vorherigen Werke anknüpfen und gleichzeitig weitergehen. Als ‚Sheet One‘ erschien, sagten viele Leute: ‚Oh mein Gott, Richie wird Ambient.‘ Dabei ging das Album nur in eine neue Richtung. Dieses Mal war die unheimliche Weite und Tiefe, die entsteht, wenn man vor 20.000 oder 50.000 Leuten spielt, ein Einfluss. Genauer gesagt, der höhlenartige Reverb, die Musik, die die Architektur repräsentiert.“ Hawtin aka Plastikman hat eine treue Gefolgschaft. Tattoos seines psychodelischen Logo ssind nicht selten bei seinen Auftritten. Seit der weltfremden Drum-Attacke auf der definierenden „Spastik“-Single hat Plastikman seinen eigenen Pfad beschritten. Das Debütalbum „Sheet One“ wurde 1993 mit einem Cover im Look von LSD-Löschpapier veröffentlicht und war ein kohärentes Statement zu der Zeit, als sich Techno nur um Singles drehte. Hawtin nahm das komplette Stück innerhalb zweier Tage und Nächte in seinem UTK (Under The Kitchen) genannten Studio im Keller des Hauses seiner Eltern in Windsor, Kanada auf. Es setzte einen neuen Maßstab für elektronische Musik. Ein Jahr später kam „Musik“, eine Auslotung des Raumes zwischen Techno und Ambient. Wie „Sheet One“ war auch „Musik“ auf den Sound des Rolands TB-303 fokussiert, im Vergleich jedoch elastischer und freier, Welten entfernt vom krachenden Hardhouse. Es forderte die Techno-Ideologie von „härter und schneller“ heraus, indem es verlangsamt und trippig war, ähnlich wie Plastikmans ausgedehnte DJ-Sets, bei denen er die Tänzer auf eine Reise von hypnotisch zu manisch mitnahm.

1995 wurde Hawtin beim Überqueren der Grenze zwischen Kanada und den USA ohne gültige Papiere erwischt. Daraufhin wurde es ihm verboten, in die USA einzureisen. Diese Erfahrung führte dazu, dass sich Plastikman in eine dunklere, introvertiertere Phase begab. Das 1998 erschienene „Consumed“ reflektiert die Zeit der Isolation und des Exils, genauso wie Hawtins Unbehagen mit dem zunehmenden Ruhm. Es hatte ein Gefühl der räumlichen und persönlichen Dislokation und war gleichzeitig Plastikmans düsterstes und bestverkauftes Album. „Artifakts (B.C)“ erschien noch im selben Jahr, eine Sammlung von Material, das ursprünglich für das niemals veröffentlichte Album „Klinik“ gedacht war. „Einige Leute haben über ‚EX‘ gesagt, dass es eigentlich kein neues Album ist, sondern nur ein Livealbum“, sagt Richie mit leichter Verwirrung, „Dazu kann ich nur sagen, dass ‚Sheet One‘ und ‚Consumed‘ auch live waren. Sie waren nur nicht vor jemanden aufgeführt. Ich war allein im Studio. Das gleiche Prinzip gilt für ‚EX‘, nur in einem größeren Maßstab.“

In den frühen 00er-Jahren, nach einer Zeit in New York, zog Hawtin nach Berlin. Sein Label M_nus etablierte eine neue, globale Community von Künstlern und Fans und sein Ruf als DJ erweiterte sich dank gefeierter Mix-CDs (‚Decks, EFX & 909‘, ‚DE9 | Close To The Edit‘ und ‚DE9 | Transitions‘) dramatisch. In 2003 macht Plastikman sein Comeback mit „Closer“. Für die Produktion kehrte Hawtin nach Windsor zurück. Dorthin, wo alles begann und er aufwuchs. Drei weitere Plastikman-Singles erschienen in einer Serie namens „Nostalgik“, und in 2010 kombinierte Hawtin für „Plastikman Live 1.5“ seine Klassiker mit Multimedia-Shows auf riesigen, gebogenen LED-Bildschirm. Das wurde begleitet von „Kompilation“, einer von Hawtin getroffene Selektion der größten Momente als Plastikman, und „Arkives“, einem Box-Set mit Fotoalbum. Es schien, als wäre dies das letzte Kapitel gewesen. „Das stimmte für sechs Jahre, vielleicht mehr. Ich dachte, ich hätte nichts mehr als Plastikman zu sagen. Für Menschen, die lange zu den Plastikman-Fans zählen, muss die Frage aufkommen: Gibt es ein Ablaufdatum? Ich habe das nun 25 Jahre lang vorangetrieben, den auf seinem Roland 303 basierenden Sound. Manchmal habe ich mir dabei gedacht, dass ich wohl nichts mehr aus dem Gerät herausquetschen kann. Aber nun, zehn Jahre später, habe ich einen neuen Weg gefunden, die 303 in einen neuen Kontext zu setzen, ihr nochmal Leben einzuhauchen“, sagt Hawtin.

Hawtins Leben begann in England. Seine Familie zog jedoch in 1979 nach LaSalle in Ontario, Kanada, als Richie neun Jahre alt war. Sein Vater, ein Ingenieur, unterstütze seine Interessen in Musik und Technik. Bis zum heutigen Tage bleibt Hawtin einer der Pioniere auf dem Gebiet. Er teste Ableton Live bereits 2000 und arbeitete mit Native Instruments zusammen, vor allem an Traktor Scratch. Während der „Kontakt“-Tour 2008, die von den M_nus-Künstlern Magda und Troy Pierce begleitet wurde, jammte er auf Wireless Audio Workstations, unter anderem mit neuartigen Geräten wie dem Lemur Controller. Seine in Berlin sitzende Entwicklerfirma Liine ist für eine Vielzahl an Innovationen verantwortlich, darunter die Smudge App, die die Audio- und Visual-Installationen von ENTER synchronisierte. Als Teenager fühlte sich Hawtin vom Detroit Techno der 80er-Jahre in den Bann gezogen. Er wurde DJ und schuf mit seinem Freund John Acquaviva Plus8 Records. Hawtin und Acquaviva waren Co-Gründer von Beatport. Zwanzig Jahre später ist Techno nicht mehr die gleiche Underground-Musik, wie sie Hawtin zuerst vorfand. Ganz im Gegenteil ist es ein weltweites Phänomen mit Millionen von Fans, die sich alle die Szene zueigen machen und ihr ihren Stempel aufdrücken wollen. Einige dieser Über-Fans zeigten besonders viel Kritik, als Hawtin deadmau5 auf Plus8 veröffentlichen ließ. Sie beschuldigten ihn, kommerziell geworden zu sein. Hawtin selbst bleibt von solchen Anschuldigungen unberührt. Er ist nur froh darüber, dass das amerikanische EDM-Phänomen die Türen geöffnet und elektronische Musik attraktiver gemacht hat.

„Ich glaube, dass die Amerikaner anfangen, sich von EDM abzuwenden. Selbst bei Shows wie dem Electric Daisy Carnival gab es Menschen, die zu uns ins Zelt kamen und von Anfang bis Ende blieben – egal, was woanders passierte. Dort waren mehr Leute mit ENTERLogos, Loco Dice-T-Shirts, Plastikman-Paraphernalien und eine unglaubliche Stimmung – so als ob Leute dachten ‚Ich mag diese Kultur, was ist hier noch für mich zu entdecken?‘“

Hat er also eine Meinung über die Zukunft kommerzieller Dance Music in den USA? „Ich sehe das nicht als etwas Neues,“ schnauft er leicht genervt. „In den 90ern gab es die C+C Music Factory, Remixe von Madonna, die eine 909 Drum Maschine benutzen, und ich glaube, dass es nicht viel ändert. Synthetisierte Sounds werden in der Pop Musik weiterhin geläufig sein, sogar im HipHop. Alle bekannten Typen von Musik haben auch schon den Pinsel in diese Farbpalette gehalten. Vielleicht sehen wir vermehrt ein Comeback von Groove, eher ein Wink zu kommerziellem House anstatt sandigem Dubstep.“ Wenn es um seine eigene Musik geht, sind solche Mutmaßungen irrelevant. Zum Beispiel nahm Richie Hawtins Reputation während des Minimal-Booms von 2004 bis 2005 stark zu, zu dem Zeitpunkt war er aber schon anderthalb Jahrzehnte im Job. Zusammen mit Robert Hood und Jeff Mills war er einer der Pioniere dieses Stils. Er ist ein Anführer, keiner der folgt. Nun geht Hawtin mit Plastikman an neue Orte, bemüht sich, seine Vergangenheit fortzusetzen, ohne sich dabei sklavisch selbst zu kopieren. „Ich bin sehr zufrieden, wie sich ‚EX‘ in das Plastikman-Kontinuum einfügt. Die Vergangenheit flackert immer wieder kurz auf. Es gibt Lieder, die in der Gegenwart sind, aber auch Songs, die zeigen ,wohin es in Zukunft geht.“

Hat es das gesamte Konzert im Guggenheim auf das Album geschafft oder ist dies eine editierte Version? Hawtin gibt zu: „Es ist leicht editiert. Einige kommentierten, dass das Album nicht wirklich ein Dance Crescendo hat. Naja, ich habe den Part herausgenommen. Es gab einen Track in der Mitte, der eine Brücke zu dem schlug, wo ich bereits war. Sehr rhythmisch, starke Bass Drums, ein Wink an ‚Spastik‘. Es hat sehr gut in dem Kontext dieser Nacht funktioniert, aber als ich mir die Aufnahme anhörte, dachte ich, dass es zu sehr von der Stimmung des Albums entfernt war. Daher habe ich den Teil herausgeschnitten. Dies änderte die Länge von 72 auf 53 Minuten. Ich habe einige Songs bearbeitet, aber es ist wichtiger, dass das, was man hört, die Stimmung dieser Nacht ist. Ich wollte nicht zu viel beschneiden. Der Grund, warum manche eine Verbindung zu ‚Sheet One‘, ‚Musik‘ und ‚Consumed‘ erkennen, ist nicht nur der Sound, sondern auch die Art, wie diese Alben aufgenommen wurden.“

Es ist beinahe Zeit für Hawtin, sich auf das DJ-Set heute Abend vorzubereiten. Die Nacht hat in Glastonbury bereits angefangen. Drüben in den Feldern von Block9, wo Transvestiten eine Skulptur namens NYC Downlow bewachen, die aussieht wie eine New Yorker Mietwohnung mit einem aus dem Dach herausragenden Taxi, spielt David Morales eine Ehrung an Frankie Knuckles mit einem Live-Auftritt von Robert Owens. Gleichzeitig heizt Sasha der Glade Arena mit pulsierendem, abgefahrenem TechHouse ein. Hawtin ist ein Teil dieser Musikgeschichte, kompliziert verbunden mit ihr, eine Schlüsselfigur. Er sieht sein neues Album klar als den Beginn eines neuen Kapitels und fühlt sich durch und durch neu belebt. Begeistert sagt er: „Ich habe eine neue melodische Struktur gefunden, einen neuen Raum, vielleicht sogar eine neue Identität. Das Wiederkehren von Plastikman ist unglaublich für mich. Das Album ist zwar fertig, aber ich weiß, dass es noch mehr geben wird.“ Mit diesen Worten sammelt er sich und macht sich auf in die Verrücktheit von Glastonbury. Über die nächsten Tage verteilt wird er über die wilden Felder wandern, sich vergnügen und Tausende mit hitzigen Sets auf verschiedenen Bühnen unterhalten. Egal ob sich Regen über dem Gelände ergießen oder die Sonne brütende Hitze bescheren wird. Richie Hawtin ist ein harter, ausdauernder Innovator der elektronischen Musik. Ein Sucher der Klänge, dessen Abenteuer es immer wert sind, ihnen zu folgen. Noch besser: Plastikman, sein acidhaftiges Alter Ego, ist zurück. Was auch immer demnächst passiert, wird es wert sein, darauf zu warten. / Thomas H Green (Übersetzt aus dem Englischen von Philipp Steffens)

 

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www.plastikman.com

Plastikman – EX (Full Album) from Minus / Plus 8 on Vimeo.