Shire T – Dunklere Gefilde

Credit: Sam Neill

An ausbleibendem Erfolg lag es sicherlich nicht, dass Chris Davids sich vor einigen Monaten dazu entschloss, das Soloprojekt Shire T. zu starten und dieser Tage sein Debütalbum „Tomorrow’s People“ veröffentlichte. Vielmehr war es die Absicht, dunklere, clubtauglichere Sounds zu veröffentlichen. Denn eigentlich kennt man Davids als Hälfte des gefeierten Elektronik-Duos Maribou State, das acht Singles und zwei Alben sowie unter anderem Remixes für Alpines und Lana Del Rey veröffentlicht hat. Entstanden ist die Idee eher zufällig. Doch irgendwann wurde aus dem Zufall durchaus Konkretes, das immer mehr Formen sowie eine eigene Identität annahm. Das Werk erscheint auf dem neuen Ninja-Tune-Sublabel von Maribou State namens Dama Dama!

Das Resultat von Chris Davids‘ Solo-Aktivitäten mündete in einer mit neun Titeln bestückten LP, die er selbst als „eine Feier der britischen Tanzmusikkultur“ beschreibt, „die aus all den Erfahrungen und Erinnerungen besteht, die ich in dieser Welt über die Jahre gemacht habe.“ Nachdem er sich Anfang 2020 ursprünglich auf den Weg gemacht hatte, um an neuer Maribou-State-Musik zu arbeiten, führten die sich ausbreitende Pandemie und die abrupte Änderung der Umstände dazu, dass Davids sich erneut auf seine Solo-Sachen konzentrierte und damit ein wichtiges kreatives Ventil entstand. Gerade der Albumtitel, „Tomorrow’s People“ soll einen positiven und hoffnungsvollen Ausblick auf die Zukunft liefern, einer Zeit, in der Dance Music wieder aus den Soundsystems der Clubs und Festivals dröhnen kann und Menschen auf der ganzen Welt wieder zusammenkommen, um ausgelassen das Leben, die Musik und sich selbst zu feiern. Shire T. begann 2017 als eine Möglichkeit, eher clubtauglichere Tools für die DJ-Sets von Maribou State zu kreieren, und wurde dabei bald zu einem wichtigen kreativen Ventil für Davids, der sich nach den Aufnahmesessions oft zusätzliche Zeit im Studio nahm, um an seiner eigenen Musik zu arbeiten. Das Projekt gewann an Bedeutung, als die beiden mit den Vorbereitungen für ihre „fabric presents“-Kopplung begannen. Das Ergebnis waren zwei Tracks – „Hackney Birdwatch“ sowie „Gentlemens Whistle Club“ – die dazu dienten, die verschiedenen Stile und Tempi auf dem Mix zu verbinden: „Am Ende bekamen die Tracks ihre eigene Identität, und als der Mix fertig war, gab es eine ziemlich anständige Menge an Ideen, die es rechtfertigten, ein neues Projekt zu gründen – Shire T wurde daraus geboren.“

Und so entstand aus der sich zunächst einstellenden Leere rund um die Covid-19-Pandemie die Intention für mehr: „Ich glaube, das Maribou-Projekt war mir und Liam schon immer heilig, weil es für uns beide eine sehr positive und gefühlsbetonte Zeit bedeutet. Die Aussicht, das dritte Album aber unter Verschluss zu halten, fühlte sich einfach sehr farblos an. Da ich bereits einige Shire-T-Tracks fertig  hatte, schien es mir der richtige Schritt zu sein, mich ohne Druck und Erwartungen darauf zu konzentrieren. Ich glaube, die düstere Stimmung kam ursprünglich daher, dass ich absichtlich wollte, dass es sich vom Maribou-Projekt abhebt – es war fast so, als wäre das eine das Gegenmittel zum anderen – aber am Ende denke ich, dass der Lockdown einfach verdammt deprimierend war und es unvermeidlich war, die Tracks so klingen zu lassen. Es fühlte sich an, als wäre  mit der Pandemie die Zukunft ausgelöscht worden und ich tauchte zurück in die Vergangenheit, in all die Tanzmusik, die mich inspirierte, als ich aufwuchs.“ Es wurde für ihn also zu einer Art Weg, dem Wahnsinn zu entkommen, der damals vor sich ging.

Tracks wie die Leadsingle „Blue Kiss“, die auf einer TB-303-Bassline und einigen klassischen Drumcomputern aufbaut, und der Album-Opener „Full Attention“ tragen ihre Einflüsse bemerkenswert nach außen, indem sie schon früh mit treibenden Synthie-Rhythmen das Tempo anziehen und so an den Rave der 90er-Jahre erinnern. Andernorts zeigen Tracks wie „London. Paris. Berlin.“ und „Serve No Tea“ eine sanftere Seite des Albums, wobei die Klavier-Refrains darauf zurückgehen, dass Chris an seinem alten Kinderklavier herumgespielt hat. Unabhängig von der Richtung, die jeder Track einschlägt, hält Chris Davids‘ geschickter Einsatz von Melodien und Vocal-Samples alles auf eine Weise zusammen, die sich für Fans seiner bisherigen Arbeit sowohl neu als auch vertraut anfühlen wird: „Ja, ich glaube, es gab etwas an der Zukunft, das mich dazu brachte, in alten nostalgischen Erinnerungen und Erfahrungen zu kramen. Glastonbury war eines der ersten Dinge, an die ich mich erinnere, und das löste viele Erinnerungen aus, die ich in den letzten zehn Jahren dort gesammelt hatte; all die verschiedenen Acts, die ich gesehen hatte, sowie das allgemeine Gefühl und die Begeisterung, die man dort auf dem Gelände bekommt. Ich hatte mir ein paar alte Geräte wie den Roland SH101 und die TB303 gekauft – ich hatte also ein ziemlich klassisches Setup, das auf einige der Sounds meiner britischen Lieblings-Elektronikkünstler wie Chemical Brothers, Prodigy, Aphex Twin und Massive Attack zurückging – also fing ich einfach an, all diese Elemente und Inspirationen zu etwas zu kombinieren, das sich wie mein eigenes kleines nostalgisches Wurmloch anfühlte.“

Dabei durchlebte der Brite so ziemlich das gesamte mögliche Gefühlsspektrum, das sich seiner Ansicht nach oftmals sogar multiplizierte: „Ich nehme an, das ist sowieso ziemlich normal, wenn man ein Album schreibt, aber die Natur der Zeit, in der es geschrieben wurde, hat all diese Emotionen wirklich verzehnfacht. Unglücklicherweise hatte sich meine psychische Gesundheit damals verschlechtert, als der Lockdown einsetzte, sodass ich in diesen Monaten ziemlich unberechenbar war, so fühlte es sich an. Aber das kontinuierliche Schreiben der Platte gab meinem Verstand etwas, woran er kauen konnte, und bewahrte mich im Wesentlichen davor, völlig den Faden zu verlieren, wofür ich unglaublich dankbar bin.“ 

Und so neu und ungewohnt die Zeit für Chris Davids war, in der die Musik geschrieben wurde, so unterschiedlich empfand er zunächst als identische Parallelen angenommene Arbeitsschritte im eigens für das neue Projekt neu eingerichtete Studio. Vor allem die Geschwindigkeit des Schreibprozesses sei ihm dabei aufgefallen. Aufgrund der Tatsache, dass niemand mit diesem Album gerechnet hat, war er völlig frei in seinen Entscheidungen, musste keine von ihnen in Frage stellen oder sich auch nur ansatzweise an Parameter halten: „Bei den Maribou-Sachen können wir monatelang an einem einzigen Track arbeiten, um ihn fertig zu bekommen, aber bei Shire T wurde mir der Luxus zuteil, nichts zu überdenken und jeden Tag an etwas Neuem zu arbeiten. Das Studio-Setup war auch viel stromlinienförmiger. Ich habe ein paar ausgewählte Teile des Equipments aus dem Hauptstudio genommen und eine verkleinerte Version in meinem Schlafzimmer eingerichtet. Ich denke, dass die Beschränkung auf ein paar Teile des Equipments es viel einfacher machte, sich auf einen bestimmten Sound zu konzentrieren und den ganzen Prozess viel fokussierter zu gestalten.“

Sein unausgesprochenes und eher im Unterbewusstsein verankertes Ziel, dass er während des Schreibens verfolgte, war es, trotz der Misere, die auf dem Erdball vor sich ging, diese mitnichten zu ignorieren, zeitgleich aber etwas Hoffnung zu verbreiten: „Es fühlte sich an wie ein Jahr, das – trotz seiner verheerenden Auswirkungen – den Menschen die Möglichkeit bot, über bestimmte Aspekte von sich selbst und den Menschen um sie herum nachzudenken und damit zu beginnen, bestimmte Veränderungen vorzunehmen; sei es auf einer Mikro- oder globalen Ebene. Ich weiß, dass die meisten Menschen gerade erst anfangen, ihren Kopf über Wasser zu halten, aber es besteht kein Zweifel, dass das letzte Jahr ein Katalysator für Veränderungen war und den Beginn einer neuen Ära markiert. Abgesehen davon ist die Platte aber einfach voll von unsensiblen Acid-Basslines und krassen Vocal-Samples, die keinerlei Ähnlichkeit mit dem Titel haben, also was weiß ich schon!? Vielleicht sollte jeder für sich den Titel ,Tomorrow’s People‘ interpretieren (lacht).“ Mittlerweile sitzt Davids am langersehnten dritten Album von Maribou State und ist bereit, die ersten Post-Lockdown-Festivals sowie Clubs zu spielen: „Es hat viel länger gedauert als geplant, bis wir uns in unserem neuen Studio eingerichtet haben, aber jetzt sind wir beide in der Lage, zu entspannen und es fertigzustellen. Generell genießen wir das Leben und fühlen uns jetzt ein bisschen normaler, um ehrlich zu sein …“

Aus dem FAZEmag 115/09.21
Text: Triple P
Credit: Sam Neill
www.instagram.com/mariboustate