Stimmungsbericht aus dem „Kriegsgebiet“ – die Kolumne von Marc DePulse

Marc DePulse über seine Auftritte in Beirut (Libanon) und Istanbul (Türkei) am 1. & 2. April 2016
Freunde der kugelsicheren Westen,
nachdem ich mich aus den Fängen der Terroristen befreien konnte, sämtlichen Sprengstoffanschlägen knapp entkam und dem Islam beigetreten bin, nur um wieder ausreisen zu dürfen, schreibe ich mit zitternden Händen diesen Stimmungsbericht.

Ich habe mich allen vorherigen Warnungen widersetzt und bin in die „Heimat der Terroristen“ geflogen, um dort mein „Leben leichtsinnig aufs Spiel zu setzen“ und zwei DJ-Gigs in Beirut (Libanon) und Istanbul (Türkei) zu spielen. Ich zitiere dabei gerade nur die Aussagen derer, die mich im Vorfeld meiner Reise für wahnsinnig erklärt haben, dass ich dort hin fliege. „Dort wirst du doch als Deutscher gleich abgeknallt oder entführt…“ und so weiter.

Gut, nachdem ich nun eure Aufmerksamkeit habe, möchte ich diese Spannungsbombe direkt wieder entschärfen und mit einem Grinsen im Gesicht fragen: Was für ein geiles Wochenende war das, bitteschön?! Daher lasst euch in einen kleinen Stimmungsbericht entführen / als Geisel nehmen.

Freitag, 1. April 2016, mittags. Ich stehe mit Jonas Saalbach (Einmusika) am Security Checkin des Flughafens Berlin-Schönefeld, kurz vor dem Boarding nach Beirut. Jonas wird hektisch herausgewunken: „Ist das Ihr Koffer???“. Jonas ist Live-Act, führt folglich jede Menge verdächtige Geräte und Kabel mit sich. Natürlich wurde er sofort als potentieller Attentäter identifiziert und mit finsterem Blick und deutlichen Gesten bedacht. Nun. Für die Beamten völlig unerwartet war der Sprengstofftest negativ. Wir konnten also starten.

Ein Katzensprung später (knapp unter 4 Stunden Flug) waren wir plötzlich in einer ganz anderen Welt. Verkehrsregeln wurden außer Kraft gesetzt, das Motto „wer am Lautesten hupt, hat Vorfahrt“ regierte. Die Schnellstraße vom Flughafen in die Stadt ähnelte einer Autobahn, mit dem Unterschied, dass darauf auch Fahrräder fuhren, Omas ihre Schubkarren drüber schoben und am Straßenrand Kinder spielten, während Busse und Laster keine 2 Meter entfernt vorbei rasten. Und wenn die Kinder einmal nicht spielten, dann verkauften sie an den Ampeln Blumen. Verrückt!

Blumenkind

Im Hotel angekommen wurden unsere Reisepässe eingezogen, um der IS-Datenbank zu sagen: schaut her, da sind ein paar Deutsche angekommen! Nein, Spaß beiseite, natürlich alles lief cool ab. Der einzige Terror, mit dem wir an diesem Abend zu kämpfen hatten, erwartete uns auf dem Hotelzimmer: es gibt einfach keine schlimmere Folter als dieses permanente Summen im Ohr. Leider kann ich euch dieses Detail nicht vorenthalten, denn so schnell wird man selbst zum Mörder. 3 unschuldige Mücken haben an diesem Abend ihr Zeitliches gesegnet. Was erlauben Libanon?

Zurück zum Ernst der Lage: Beirut ist eine große Stadt, mit einer ebenso großen Schere zwischen arm und reich. Ein 575 m² Appartement mit Meerblick steht um die 5 Millionen Dollar zum Verkauf, eine Straße weiter leben die Menschen sprichwörtlich von der Hand in den Mund.

Der Bereich um den Club „Off & On“ ist eine sehr reiche Gegend. Der Club selbst ist übrigens tagsüber ein Männerfriseur und mutiert nachts zur Party-Hochburg. Preislich gestaltete sich das in etwa so: 40,- Dollar Eintritt und einen Tisch mit speziellen Spirituosen kann man für ca. 1.000,- Dollar reservieren. Andere Welt. Optisch spielt der Club ebenso in einer anderen Liga, ausgestattet mit einem VOID Sound System und einer absolut fantastischen Lichtanlage, projiziert auf eine etwa 5 Meter hohe Wand an der Bar. Und dazu noch ein absolut fantastisches Publikum. Der Laden war so voll, dass sich die Leute schon fast gestapelt haben. Tanzen war nicht möglich. Was aber der Stimmung keinen Abbruch tat. Feiern als gäbe es kein Morgen mehr. Vermutlich ist das so etwas wie das Lebensmotto vieler Libanesen, die ihre Kindheit und Jugend jetzt mehr denn je nachholen und genießen wollen. In jedem Fall schwappte uns eine große Menge an Dankbarkeit, Freude und Familiengefühl entgegen. Was auch darin zeugte, dass jeder aus dem gleichen Glas bzw. aus der gleichen Flasche trank. Ob man das nun lecker findet, ist zweitens.

Barbershop

Leider war unser Zeitfenster nur sehr klein, um die Stadt ausführlich zu sehen. Nach ein paar Stunden Schlaf ging es dann auch schon wieder zurück zum Flughafen. Mit der Empfehlung „Kommt lieber ein paar Stunden früher an.“ – und das war auch nötig, nachdem wir Hand gezählte 9x unseren Reisepass zur Kontrolle vorzeigen mussten und schon beim ersten Mal von Staatsdienern mit der Hand am Abzug des Gewehrs begrüßt wurden. Ein Gefühl der Geborgenheit machte sich breit. Nicht.

Nach dem doppelten Security-Checkin fühlten wir uns noch sicherer, denn weder Jonas‘ Kabelkoffer noch mein mit Getränkeflaschen gefülltes Handgepäck wurden gefilzt. Vielleicht regiert dort aber auch das israelische Modell des Profilings: „Warum der alten Oma ihr Mineralwasser wegnehmen wenn man Attentäter ganz anders identifizieren kann?“ Nun gut, das nicht explodierende Flugzeug gab den Sicherheitsvorkehrungen schließlich Recht.

Eine Dose Schlaf später sind wir in Istanbul gelandet. Nach knapp 15 Jahren DJing war das übrigens mein erster Gig in der Türkei, aber es ist schließlich nie zu spät für ein erstes Mal – vor allem nicht, wenn es dann so großartig wird. Club (CUE Istiklal), Restaurant und Hotel trennten keine 10 Meter – so wie man es als DJ liebt. Kurze Wege, kein Abhole- und Bringe-Stress, einfach entspannt im Schlafanzug in den Club wandeln. Zumindest in Gedanken.

CUE ISTIKLAL

Aber die Schlafzimmer-Stimmung wurde sofort beendet, als wir zu viert in den ca. 1m² großen Fahrstuhl-Käfig einstiegen und zwischen der 2. und 3. Etage plötzlich stecken blieben. Vielleicht war das das einzige Mal, wo ich wirklich so etwas wie Angst an dem Wochenende verspürt habe. Aber unterm Strich waren die knapp 10 Minuten in Gefangenschaft vielleicht auch der richtige Wachmacher für mich. Schneller kann man schließlich nicht auf den Punkt hin „an“ sein. Und schneller schlottern mir auch sonst nie die Knie.

Club und Publikum haben mir letztlich den Abend versüßt. Der Ausblick von der 4. Etage über die halbe Stadt war ebenso atemberaubend. Alles in allem war es ein großartiges Einmusika-Showcase mit Philipp Kempnich, Jonas Saalbach und meiner Wenigkeit. Was bleibt sind die Erinnerungen. An die Gastfreundlichkeit, die Dankbarkeit der Menschen, das gute Essen, die lustigen Storys und die schöne Musik. Das Bier schmeckt genauso wie hier, um es mal bildlich zu sagen. Aber es ist eigentlich wie immer und für meine Begriffe völlig normal, wenn man in unbekannte Gefilde vordringt: mit etwas Skepsis reist man hin und mit einem breiten Grinsen kehrt man wieder zurück.

ISTANBUL_Straße

Club und Hotel sind übrigens 200 Meter davon entfernt, vor sich erst vor 2 Wochen die letzten Anschläge ereigneten. Wenn man mit den Türken darüber spricht, hört man viel Sorge und Unverständnis, aber auch viel Zuversicht und Mut. Man will sich die Freiheit nicht verbieten lassen, ist trotzdem vorsichtiger geworden. Dennoch sollte man relativieren, was einem die Medien auftischen und was tatsächlich passiert. Ohne etwas schön zu reden, aber beim letzten Anschlag sind so viele unschuldige Menschen ums Leben gekommen, wie vermutlich an einem Tag durch Verkehrsunfälle. Ich bin kein Freund der Panikmache, versuche alle Meldungen differenziert zu betrachten, dabei aber weder Dinge als kleinlich abzustempeln noch sie zu sehr an die große Glocke zu hängen.

Ein gutes Beispiel dafür hat mir meine Reise nach Kiew (Ukraine) im Januar gegeben. Als ich mit den Leuten ins Gespräch gekommen bin, wie die Situation heute in Kiew sei, meinten sie „glaub nicht immer alles, was im Fernsehen kommt.“ Natürlich habe es gekracht, natürlich brannten Straßen und es wurde viel Blut vergossen. Aber es sei bei weitem nicht so dramatisch gewesen, wie es häufig dargestellt wurde. Und im Umkehrschluss fragten sie mich plötzlich nach dem Bürgerkrieg in meiner Heimatstadt Leipzig. Sie haben gehört, dass es „überall brannte“, sich „Menschenmassen schlugen“ und es wurde mit den Schlachten von Kiew verglichen.

Hand auf´s Herz. In Leipzig gab es zuletzt unschöne Szenen, aber wir sind zum Glück weit davon entfernt, das Wort „Bürgerkrieg“ in den Mund zu nehmen. Merkt ihr etwas? Genau das passiert überall und jeden Tag und wird uns von den Medien in den Kopf gehämmert. Natürlich sind Ausschreitungen und Krawalle kein Mittel. Konflikte mit Gewalt zu lösen ist so mittelalterlich, aber doch leider immer noch omnipräsent.

Ich rate jedoch jedem, der sich von jeder Panikmache beeinflussen lässt, sich immer sein eigenes Bild zu machen, bevor man zu schnell urteilt. Hinterher stellt man fest, dass es überhaupt keinen Mut bedarf, um in solche Länder zu reisen. Denn das einmal ganz für sich selbst zu erleben kann viele Grenzen und Hürden im eigenen Kopf einstürzen lassen. Reisen macht toleranter, Reisen lehrt und bildet. Vor allem aber macht es weltoffener und hilft, die ganze Flut an negativen Nachrichten besser zu verarbeiten. Und wenn das alles immer noch nicht hilft, reicht ein Blick aus dem eigenen Fenster. Nämlich dann, wenn einem Fernsehen und Facebook mal wieder zu viel wird. Also: Kiste aus, raus an die frische Luft und das Leben mal so richtig einatmen.

Istanbul von oben

Ich bin abermals dankbar für die Erfahrungen, die ich am vergangenen Wochenende gemacht haben. Meinen Enkelkindern werde ich als Opa später mal ganz schön viel zu erzählen haben. Allen Angstmachern hingegen sollte dieser Bericht hier erst einmal ausreichen.

Tschüss,

Marc.

 

Und hier gibt es noch mehr von Marc DePulse:

Aus dem Leben eines DJs
Das Publikum aus der Sicht des DJs
Wie schicke ich mein Demo richtig an ein Label