Russlands Rave-Szene erlebt eine Renaissance mit System108

Während wir hier vor uns hin vegetieren und auf ein Stück Normalität warten, steigen in Russland schon wieder die geilsten Rave-Partys. Egal, ob Underground oder kommerziell. Die Rave-Kultur in Russland hat eine lange Tradition und erfährt aktuell eine Art Renaissance. Einer der aufstrebenden Kollektive ist System108. Noch nie gehört? Dann wird es Zeit…

System108 ist ein Moskauer Label, dass drauf und dran ist ein internationales Phänomen zu werden. Wir haben eine System108 Party besucht und Zhenya Mashkov interviewt, die eine der Gründer des Kollektivs ist.

„Nein, das passt nicht. Ich denke, er wird keine Zeit haben, von Moskau anzureisen. Wie wäre es damit? – die Gründerin von System108, Zhenya geht durch die Liste mit Artists, die in Frage kommen, um bei den Partys zu spielen. Einer der Headliner hat seinen Flug verpasst und es sind nur noch vier Stunden, bevor die Party losgeht. Ihr bisher größtes Event in St. Petersburg, alle Tickets sind ausverkauft.

Wir treffen uns in einem trendigen Restaurant, das mit Mobiliar aus der Zarenzeit eingerichtet ist. Ein großer Kontrast zu den ultra-modernen Installationen, mit der das Team normalerweise bei ihren Events auftrumpft. Eine halbe Stunde später wurde ein Ersatz für den fehlenden Headliner gefunden, die Spannung hat sich gelegt und sie erzählt die Geschichte einer der erfolgreichsten Promotion Teams in Russland. System 108 hat die Fühler weit ausgestreckt, um international zu expandieren.

Im Jahre 2015 ist Mashkov von Saratov nach Moskau gezogen und begann Musik mit Freunden zu produzieren. Da sie von den Labels keine Antwort bekamen, beschlossen sie ihre Musik selbst zu veröffentlichen. Eine altbekannte Geschichte. Zu dieser Zeit ging der Sound allerdings noch eher in Richtung House und Minimal.

„Ich dachte, es wäre toll, eine kleine Party zu veranstalten, um den Release unserer ersten Platte zu feiern. Ich wollte all meine Freunde versammeln und da ich in Saratov bereits Partys veranstaltete, wusste ich in etwa was zu tun ist. Nach etwas Recherche kristallisierte sich das „Vanilla Ninja“ als bester Veranstaltungsort heraus. Die Party war atemberaubend und kam extrem gut an. So hatten wir dann schon mal einen Fuß in der Tür. Leider schloss der Club bereits einen Monat später und unsere zweite Party fand im Constructor statt. Zu dieser Zeit waren wir so ziemlich die einzigen, die große Techno-Partys in Russland veranstalteten.“

Die Events von System108 heißen TEST Partys und werden von allen großen Artists von Ostgut Ton bespielt. Wir hatten das Glück, dass große Stars wie Maceo Plex, Apollonia, Answer Code Request oder Kobosil bei den Partys vertreten waren.

„Obwohl die Partys sehr beliebt waren, machten wir weiterhin Events für uns selbst. Das Team reiste viel umher und absorbierte viele Eindrücke. Daher sind wir Tag für Tag gewachsen und projizieren das auf unsere Partys.“ Nach mehr als 200 Partys wurde System108 so professionell wie möglich. Die Events sind bis auf das kleinste Detail durchdacht. „Wir denken nicht, dass wir etwas Besonderes sind. Aber wir sind mutig. Einer der wichtigsten Ziele ist, dass sich die Gäste wohlfühlen. Dafür investieren wir viel Zeit und Geld.“

Ein weiterer wichtiger Punkt ist das System108 wie eine Familie ist.

„Jeder Artist, mit dem wir zusammen gearbeitet haben, genossen die familiäre Atmosphäre bei System108. Wir fühlen innige Liebe und teilen die auch gerne mit anderen. Wir sind der Meinung, dass wir alles aus tiefsten Herzen machen und so das Glück zu uns kommt. Wir haben illegale Raves veranstaltet und hatten Glück, dass alles glatt lief. Bei manchen Events haben wir große Verluste gemacht. Aber wir gaben nicht auf. Teilweise haben wir unsere Autos verkauft, um weiter machen zu können. Wir lieben was wir tun und wollen nichts anderes machen.“

Im vergangenen Jahr gab es in Russland so gut wie keine Partys mit Artists aus dem Ausland. Auf Festivals spielten nur Locals, was sich natürlich auch positiv für das Label ausgezeichnet hat. „Wir haben festgestellt, dass unsere Residents, wie zum Beispiel Kovyazin. extrem talentiert sind und sich nicht verstecken müssen. Zu Anfang waren wir sehr zurückhaltend und hatten Angst bekannte Artists zu kontaktieren. Nun machen große Künstler gerne Remixes für unsere Artists. Wir haben also die Zeit gut genutzt und uns weiterentwickelt. Bejenec hatte einen Release, der nach wenigen Monaten ausverkauft war und aktuell rund 150 Euro auf Discogs kostet. Tracks von unserem Label werden auf den bekanntesten Dancefloors der Welt gespielt. Wir haben hunderte von Anfragen und wissen schon nicht mehr, wie wir alles stemmen können. 2020 wäre unser Jahr gewesen, aber wegen des Virus wurde alles abgesagt. Unsere Artists haben großartige Bookings. Und wir sind sicher, dass System108 seinen Weg gehen wird. Wir sehen uns einer blühenden Zukunft gegenüber.

Die wichtigsten Werte von System108 sind Liebe ohne Grenzen, Familie und Arbeit, die alle Beteiligten glücklich macht. „Wir leben unser Leben, absorbieren alles um uns herum und werden davon high.“

Die Freude am Arbeiten wird auch an die Künstler weitergegeben, die von den Moskauern eingeladen werden. Am vierten Geburtstag des Labels kam Danny Daze nach Moskau. Nach seinem Set, spielte er weitere sechs Stunden auf der After-Party und beschloss noch eine Woche in Moskau zu bleiben – und überzog dabei sein Visum. Glücklicherweise konnten die Promoter die Probleme lösen. Einen Monat später fragte er die Russen, ob sie ihm das Vocal „I’m stuck in Moscow for a week“ in sieben verschiedenen Stimmen aufnehmen könnten. Eine Woche später schickte er einen Track mit dem gleichen Namen.

„Ich merkte sofort, dass es eine Bombe ist und wir es bald releasen werden!“, sagte Mashkov.

System108 sieht sich selbst nicht als russisches oder internationales Label. „Ich bin Russin, ich fühle mich russisch, ich mag die russische Kultur. Aber wir sollten uns nicht nur als Russen definieren, da viele der Artists, die uns beeinflusst haben, nicht aus Russland sind. Ich will mich nicht an etwas festklammern und Grenzen ziehen.“

Die Party, die wir besuchten, fand in der Nähe des Finnischen Meerbusens statt. Wir hatten Glück mit dem sonnigen Wetter, jedoch war es zu kalt, um länger ohne Jacke an der frischen Luft zu bleiben. Riesige Heizlüfter wurden auf dem halboffenen Dancefloor angebracht. Das wichtigste Gadget auf der Party war ein warmer Mantel. Obwohl es der 1. Mai war, lag die Temperatur bei 5 Grad. Wie es bei einem russischen Rave Brauch ist, platzte der Dancefloor aus allen Nähten. Zhenya hat nicht gelogen: Komfort wird groß geschrieben. Kein Andrang an der Garderobe und die Schlange an den Toiletten war kaum vorhanden. Für die Frostbeulen standen warme Decken zur Verfügung. Das Bezahlsystem funktioniert mit speziellen Karten, die beim Eingang aufgeladen werden können.

Der Unterschied zwischen Partys in Moskau und St. Petersburg liegt auf der Hand. Moskau ist einfach größer und daher herrscht mehr Energie auf den dortigen Partys. Jedoch sind die Locations in St. Petersburg eindrucksvoller. Man hat nicht nur das Meer, sondern auch viele geschichtsträchtige Gebäude, die eine besondere Atmosphäre schaffen.

Auf der Party spielen nur russische und ukrainische Artists. Wegen Corona ist es immer noch schwierig nach Russland einzureisen. Das Ganze hat aber auch etwas gutes: die Artists haben die Chance in der Prime Time zu spielen. Sie haben einen größeren Anreiz und nehmen alles etwas ernster. Dennoch hat der „ausländische Exot“ immer noch eine unerklärliche Anziehungskraft.“

Gegen 15 Uhr beschleunigt Kovyazin den Dancefloor auf 150 bpm und mixt Techno, Electro und Industrial. Riesige rote Spotlights und übertrieben viele Menschen oben ohne. Es gibt selten so eine ausgelassene und gleichzeitig angenehme Energie, wie in Russland. Die Leute sind arm und werden jedes Jahr ärmer. Sie haben nichts zu verlieren. Schwer zu beschreiben, man muss es erlebt haben.

Laut Mashkov wird die russische Szene immer beliebter. Und es würde noch gesteigert werden, wenn es einfacher wäre ins Land einzureisen. „Es gibt eine lange Rave-Tradition in Russland, die kurzzeitig etwas stehen geblieben ist. Aktuell kommt sie aber zurück auf die Beine und geht selbstbewussten Schrittes voran.“

Sobald sich alles wieder eingependelt hat, werden wir vom Fazemag versuchen persönlich auf russischen Raves vertreten zu sein und so eine Brücke nach Russland zu bauen. Musik kennt keine Grenzen und vernetzt die ganze Welt. Bis es soweit ist haben wie immerhin ein paar Fotos für euch, um einen Eindruck zu vermitteln. Es scheint sich offensichtlich zu lohnen, Mütterchen Russland einen Besuch abzustatten.

 

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Text: Yegor Lapshov
Übersetzung: Gabriel