Christian Arndt im Interview über sein Buch „Electronic Germany“

Detroit gilt als die Geburtsstätte von Techno. „Techno City“, aus dem Jahre 1984, wurde von Juan Atkins und Richard Davis produziert und zählt bis heute zu den bedeutendsten Werken. Anfangs war es eine Mischung aus Jazz, Soul und einem housigen Beat. Seitdem her übt das Genre einen hohen Einfluss auf verschiedenste Bereiche des kulturellen und sozialen Geschehens aus. Der Kulturwissenschaftler Christian Arndt berichtet in seinem neuen Buch „Electronic Germany“ über die Geschichte der Techno(musik)kultur. Durch Interviews mit verschiedenen, prägenden Szenefiguren kommen auf insgesamt 240 Seiten Produzenten wie Westbam, Paul van Dyk, Marusha oder Paul Kalkbrenner zu Wort. Im Interview mit uns spricht er über die Anfänge des Techno in Frankfurt, seine ersten Raves und musikalische Vorlieben. 

Hallo Christian, wie bist du zur elektronischen Musik gekommen?

Die Vorliebe war bei mir scheinbar angeboren (lacht), elektronische Musik begleitet mich schon seit der achten Klasse.

Warst du in deiner Jugend selbst ein Raver?

Raven war damals noch kein Thema, das kam dann erst mit Anfang 20. Zunächst besuchte ich in Frankfurt die Clubs Dorian Gray und Omen, später dann den (ersten) Tresor und das WMF in Berlin. Heute „rave“ ich immer noch gern, so wie bei DJ Hell im Berghain, bei Kollektiv Turmstrasse im Robert Johnson oder gerade neulich erst in der Distillery in Leipzig bei Sascha Funke und bei Dirty Doering im Tanzhaus West.

Welche Künstler haben dich am meisten geprägt in deiner Jugend?

Am Anfang sicherlich Kraftwerk, New Order und die ganze Blase um The Human League und Heaven 17. Ich habe aber auch gern die Musik von Der Plan, Palais Schaumburg und den Einstürzenden Neubauten gehört. Und dann ging es ja auch Mitte der Achtziger Jahre schon los mit den Bombast-Produktionen von ZTT (Art Of Noise, Propaganda, FGTH), mit Italo Disco, Electro (Funk), Techno und House aus Chicago, New York und Detroit, England, Belgien, Frankfurt und Berlin.

Und welche Künstler hörst du aktuell am liebsten?

Das ist total stimmungsabhängig. Das aktuelle Album von Chris Liebing (und Ralf Hildenbeutel) finde ich sehr stark, auch das von Anthony Rother (mit dem fast unschreibbaren Titel 3L3C7RO COMMANDO), die „Ifa EP“ von Sascha Funke und das Magnum Opus von Dirty Doering „Euch die Uhren … uns die Zeit“ finde ich äußerst gelungen. In ruhigeren Stunden höre ich Musik von Nils Frahm, Sigur Ros, Royksopp, Trentemøller, Brian Eno und Tangerine Dream. Und wenn ich keine Lust auf Elektronik habe, dann höre ich Werke von Ennio Morricone, Philip Glass, Erik Satie, Bach und Telemann.

Was hat dich dazu inspiriert, „Electronic Germany“ zu schreiben?

Die Liebe zur Musik und der Wunsch, meinen kleinen Beitrag zur Geschichtsschreibung zu leisten.

Zehn Jahre hast du für das Buch recherchiert. Inwiefern hat sich die Zielsetzung im Laufe dieser Zeit verändert/verfeinert – oder eben nicht verändert?

Das Buch sollte ja zunächst ein Film werden, dafür haben Andreas Heller und ich ab 2008 prominente Protagonisten, diverse Events (darunter Green and Blue und auch die Nature One) besucht und in Ton und Bild festgehalten. Das Material ist jetzt auch schon fast wieder von historischem Wert. Ab 2017 wusste ich dann, dass ich ein Buch daraus machen will. Natürlich hat sich der Fokus mit jeder Begegnung und jedem neuen Künstler, den man traf, leicht verändert. Aber die Grundideen und „Themeninseln“ (z. B. Paraden, Drogen, Techno & Politik) sind die gleichen geblieben.

Was war die größte Schwierigkeit im Laufe des Schreibens?

Wie immer bei etwas weiter gesteckten Themen, war es natürlich schwierig zu entscheiden, was rein „muss“ und was leider aus Platzgründen außen vor bleibt. Neben den „Klassikern“, an denen kein Weg vorbei führt, habe ich natürlich persönliche Interessen und Vorlieben berücksichtigt und auch versucht, spannende Künstler zu portraitieren, die für eine bestimmte Spielart als repräsentativ gelten können – wie zum Beispiel Pantha Du Prince und Kollektiv Turmstrasse. Rückblickend hätte ich gern mehr weibliche DJs und Musikerinnen ausführlich präsentiert, aber einige Interviews haben leider nicht geklappt. Aber es wird wahrscheinlich eine Fortsetzung geben, und dann haben wir ja auch noch den Podcast. Das Feedback zu beiden ist jedenfalls bislang sehr positiv.

Die Frankfurter Szene erhält deiner Meinung nach zu wenig Aufmerksamkeit, wie unterscheidet sich die Frankfurter Szene von der Berliner Szene, was hat sie so speziell gemacht?

Kurz zusammengefasst: Frankfurt war früher als andere deutsche Städte mit interessanten elektronischen Produktionen auf dem Markt, es gab mit ZYX, AMV und Discomania schon eine gut funktionierende Vertriebs-Infrastruktur für die Labels, die bald wie Pilze aus dem Boden schossen. Läden wie das Delirium und Clubs wie Dorian Gray, Omen und (nicht zu vergessen) Music Hall boten schon in den späten Achtzigern technoide Abend-Unterhaltung auf hohem klanglichen Niveau. Zu der Zeit wurde in Berlin noch in Kellern und Abbruchhäusern gefeiert – mal abgesehen vom Metropol am Nollendorfplatz. Erst nach dem Mauerfall, ca. 1990/91 wurde Berlin für Techno sozusagen richtig „urbar“ gemacht, in kurzer Abfolge eröffneten Tresor, WMF, Eimer und so weiter. Ab spätestens 1992 hatte Berlin dann die Nase vorn. Aber die trance-inspirierte und sehr treibende Variante des „Sound of Frankfurt“ blieb national und international äußerst erfolg- und einflussreich. Heute konzentriert sich die Szene Rhein-Main vor allem in den beiden Clubs Robert Johnson und Tanzhaus West, die aber erst deutlich nach der ersten Techno-Welle überhaupt das Licht der Welt erblickten. Aber das ist euren Lesern ja sicherlich bestens bekannt.

Kannst du uns noch etwas zum Podcast erzählen?

Den Podcast gibt es nur, weil DJ Eastenders und ich uns zufällig auf der Frankfurter Buchmesse getroffen und uns über das Thema unterhalten hatten. Anfänglich haben wir uns exklusiv mit den Inhalten des Buches beschäftigt, inzwischen ziehen wir thematisch weitere Kreise. Die erste Staffel ist bald abgeschlossen, die zweite beginnt mit einem Live-Event in Frankfurt am 10. Mai.

Mit deiner ersten Buchveröffentlichung „Electronic Germany“ hast du dir wahrscheinlich einen langersehnten Traum erfüllt. Gibt es Pläne für ein weiteres Buch?

Tatsächlich gibt es zwei ganz konkrete Anfragen, zu denen ich aber noch nichts sagen möchte. Nur so viel: Ich brauche noch ein paar Monate Pause, bevor ich mit dem nächsten Buchprojekt loslegen kann und will.

Inwiefern hast du als Musikliebhaber deine Freunde und Familie geprägt?

Hmmm. Das ist eine interessante Frage: Mein jüngerer Bruder, der in Berlin und international in der Kunstszene aktiv ist, hat Techno auch ziemlich früh entdeckt, allerdings geht er nicht wirklich „raven“ und hört heutzutage auch eher klassische oder neoklassische Musik. Meine Tochter hat ihren eigenen Kopf in Sachen Musik. Bei Sean Paul und ein paar Pop-Classics aus den Achtzigern sind wir uns noch einig, aber in ihren aktuellen Charts (die ich manchmal im Auto hören „darf“) finde ich wenig Erbauliches. Sie wiederum findet Minimal Techno eher langweilig.

Was glaubst du, was können die jungen Protagonisten von den alten lernen und umgekehrt?

Bei unseren Lesungen und Talks erleben Stefan (DJ Eastenders) und ich ein unglaublich neugieriges und aufgeschlossenes junges Publikum. Ich glaube, die jüngere Generation der 18- bis 30-jährigen Musiclover findet die alten Geschichten aus der Zeit vor Spotify, iTunes und Ableton schon interessant. Auch der Umstand, dass Leute 100 Mark für ein DJ-Tape gezahlt oder 250 Kilometer gefahren sind, um einen bestimmten Remix von Michael Münzing im Dorian Gray zu hören, sorgt für viele erstaunte Gesichter. Was die alten Hasen von den jungen lernen können? Die Neugier und die Begeisterung für das Feiern, bei dem es weniger um den nächsten großen Hit oder die Top 10 irgendwelcher DJ-Charts geht, sondern das pure, exzessive Feiern. Das haben viele Leute meiner Generation inzwischen verlernt. Aber die Erfahrungen kürzlich in der Leipziger „Tille“, in der Griessmühle Berlin und im Tanzhaus West in Frankfurt stimmen mich da sehr optimistisch.

Zur Zeit erleben wir einen boomenden Festivalsektor, eine anhaltende Kommerzialisierung, die Umwälzung des Tonträgermarkts, immer neue Clubpleiten …
Wie sieht dein Ausblick/deine Prognose für die elektronische Musik(szene) aus?

Das ist wahrscheinlich die Frage aller Fragen: Wer kauft eigentlich noch Musik? Was macht die Streamingindustrie mit den „kleineren“ Künstlern und Labels, die beim politischen Playlist-Marketing so gut wie keine Chance haben? Die Aufmerksamkeitsökonomie arbeitet leider gegen die Newcomer, es sei denn, sie haben wie Robin Schulz massives Backing etwa von einem Major-Label. Ein Paul Kalkbrenner konnte noch bei einem Indielabel groß werden, dann sein eigenes Label gründen, um dann bei Sony Music zu unterschreiben. Davon wird seine Musik nicht weniger gut, aber diejenigen, die eine Liga unter ihm spielen, bekommen halt kaum „Visibility“. Ein relativ bekannter DJ hat mir neulich erzählt, wie sehr ihn die ganze Click-Ökonomie nervt. Du brauchst heute nicht nur ein Label, ein Management und eine gute Booking Agentur, sondern auch noch einen Social-Media-Manager oder besser gleich eine Agentur, die dich auf allen Kanälen möglichst gut positioniert und in den oberen Rängen hält. Dafür musst du dann auch möglichst viele Selfies mit Person X, im Club Y oder auf dem Berg Z machen, das liegt aber nicht allen und diesen Service können sich auch die wenigsten leisten.

Die Konkurrenz zu anderen Formen der Unterhaltung sollte auch nicht unterschätzt werden, von Netflix bis Fortnite – es gibt so vieles, womit Menschen im feierfähigen Alter ihre Zeit verbringen können, dass ein Club schon sehr viele Attraktionen bieten muss, um die Leute anzulocken.

Optimistisch stimmt mich die große und bunte Festivallandschaft, wobei ich persönlich die „kleinen“ wie Think! Wurzelfestival, Love Family Park oder Homerun den Mega-Events vorziehen würde. Auch wenn es lange schon keine Grenze mehr gibt, können wir Wessis ganz viel von den Ossis lernen, nämlich eine große Neugier, Respekt für die Musik und eine stilistische Offenheit, die ich in Frankfurt und Berlin oft vermisse.

Was war dein abgefahrenstes Partyerlebnis?

Das war eigentlich eher ein Festival-Erlebnis: Beim Glastonbury Festival 1998 stand ich schräg hinter Maxi Jazz und Sister Bliss von Faithless auf der Bühne, als sie vor etwa 10.000 Leuten „God is a DJ“ spielten, während ein Piratenschiff auf Rädern mit weißen Segeln langsam durch die wogende Menschenmenge zu gleiten schien. Ich glaubte wirklich einen Moment lang, dass ich jetzt gleich losfliegen und eine Runde über das Festivalgelände drehen würde. Kann sein, dass da auch noch irgendwelche Kräuter im Spiel waren.

 

Kurz & Knapp

Deine Faszination für Techno in einem Satz:

Immer wenn ich denke, ich hätte schon alles gehört, kommt wieder jemand mit einem Track um die Ecke, der mich kickt wie 1990 (lacht).

Dein erster Clubbesuch …

war kein Techno-Club, sondern die berüchtigte Berliner Drogen-Disco „Sound“ (bekannt aus dem Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“). Erstmals auf „Techno“ gefeiert habe ich tatsächlich in Talla 2XLCs erstem Techno Club, der damals noch Sonntag nachmittags in einer Kellerdisco namens No Name in der Frankfurter Innenstadt gastierte.

Dein Lieblingsclub:

Da möchte ich keinen hervorheben. Einige Namen sind ja schon gefallen.

Wichtig ist mir, dass auch die „Provinz“ in dieser Hinsicht viel zu bieten hat, etwa das „Arm“ in Kassel sowie die Städte Leipzig und Dresden.

Dein erster Artikel über elektronische Musik:

Das weiß ich echt nicht mehr. Sorry.

Aber die Interviews mit Kraftwerk (per Fax!), mit Faithless (live) und Paul Kalkbrenner (mit Teil-Ausfall meines Rekorders) blieben im Gedächtnis.

Vinyl …

finde ich super. Aber ich bin kein ausgesprochener Vinyl-Junkie und bin auch nicht der Meinung, dass Vinyl „besser“ und „wärmer“ klingt als ein digital produzierter Track. Letztlich kommt es auf die musikalische Qualität sowie auf die technischen Fähigkeiten des Produzenten und Engineers an.

 

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