Generation „Müsli statt Döner“ – die Kolumne von Marc DePulse

Müsli statt Döner“ – die Kolumne von Marc DePulse

Sonntag früh, 8:00 Uhr. Die Schuhe hinüber, die Hose dreckig, das Shirt zerrissen. Glitzer im Gesicht, Apfelmus im Kopf, ein Geruch wie fünf Tage Pumakäfig, aber du bist der glücklichste Mensch der Welt, denn dein Lieblingstürke ums Eck hat dir gerade einen Big Döner gezaubert. Dazu eine Kippe, einen Kaffee, eine Nase und weiter geht’s zur Afterhour oder für manche DJs gleich weiter zum nächsten Gig. Eine mögliche Beschreibung des typischen Ravers, damals wie heute. Ballern ohne Ende, drei Tage wach, „YOLO“.
Doch gibt es heutzutage diese Art Raver noch unter den DJs? Ja, aber es werden immer weniger. Man ist doch viel mehr auf Außendarstellung bedacht, auf Stil und Etikette und vor allem auf eine gewisse Rave-Disziplin, bedingt durch zwei Faktoren: Alter und Wettbewerb.

Fakt ist, alle, die schon seit den 1990er-Jahren im elektronischen Nachtleben aktiv sind, gehören heute zur Generation 35plus, eher sogar schon 40- oder 50plus. Wir sind alt geworden, dafür aber nicht unbedingt erwachsener. Das Alter bringt eine gewisse innere Ruhe mit sich. Man lernt, die Dinge besonnener anzugehen und viel bewusster zu genießen. Feiern kann man natürlich immer noch so wie früher, nur dauert die Regeneration länger. Manchmal sogar viel länger.

Altwerden ist aber auch ein Privileg, denn bestenfalls hat man bereits eine Familie gegründet oder steht kurz davor. Der Ultraschall ersetzt den Ultraschal – Hooligans, die früher keine Schlacht ausgelassen haben, sitzen heute mit ihrem Nachwuchs in der Buddelkiste und formen Sandburgen. In etwa so kann man die Generation beschreiben, in die Party-Animal-DJs um die 35plus hineinwachsen: früher keinen Rave verpasst, über Tage hinweg den Pegel gehalten und jede Afterhour mitgenommen. Heute dann mal lieber doch nur Wasser und nach dem Gig zeitig ins Bett. Frau und Kind warten ja zu Hause. Aber nicht nur am Altwerden allein kann man die Generation „Müsli statt Döner“ festmachen. Es drängt sich immer mehr die Frage auf, wann genau aus „Sex, Drugs & Rock ´n´ Roll“ eigentlich „Free Hugs, Traubenzucker & Schlager-House“ wurde.

Der Punkt ist: Die Szene gleicht immer mehr einem Wettbewerb. DJs sind die neuen Superstars. Der Beruf ist salonfähig geworden. Das hat zumindest im kommerziellen Sektor zur Folge, dass es nicht mehr wichtig ist, was man als DJ macht, sondern wie gut man dabei aussieht. Und während sich der eine Montag früh noch die allerletzten Gehirnwindungen wegpustet, sitzt der andere längst nüchtern im Studio, produziert neue Musik und füttert sein Netzwerk. Disziplin ist das magische Wort, um das enorme Pensum zwischen Studio, Networking und Touring bewältigen zu können. Der Markt mit guten Künstlern ist extrem in die Breite gegangen. Wer zu selten abliefert, wird überholt, und wer nicht fleißig ist, bleibt auf der Strecke.

Der moderne Ü30-DJ achtet zudem auf seine Ernährung, beschäftigt sich plötzlich mit Kalorienangaben, trinkt laktosefreie Milch, ersetzt Fast Food durch Salat, gönnt sich zum Frühstück Müsli statt Nougat-Creme, isst wenig bis gar kein Fleisch und sowieso muss alles Bio sein. Schließlich muss man unter der Woche Tribut dafür zollen, was man am Wochenende stolz eingerissen hat. Alkohol? Nein, danke, mal lieber nur einen Smoothie. Aber erst nach dem Sport. Entgiften 2.0.

Die Leistungsgesellschaft hat auch vor unserer Szene keinen Halt gemacht. Es regiert das Prinzip des Stärkeren, des Besseren. Wer dauerhaft oben mitschwimmen will, muss sich mehr denn je ein Bein ausreißen, muss die Masse an Releases mit höchster Qualität paaren und nebenbei noch ein enorm präsentes Social-Media-Networking an den Tag legen. Wir sind in einer Zeit angekommen, wo Schwächephasen nicht geduldet werden. Die Szene verschlingt dich und spuckt dich direkt wieder aus, egal wo du überall schon gespielt oder auf welchen tollen Labels du früher releast hast. „Feuer auf allen Kanälen“ ist das traurige Resultat dieses Wettbewerbs. Ich würde mich freuen, wenn langsam mal wieder Normalität einkehren würde. Die Hoffnung stirbt immerhin zuletzt.

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