Zwischen Champagner und Explosion – der Ukraine-Reisebericht von Marc DePulse

Am 5. April feiert unser langjähriger Weggefährte und Kolumnist Marc DePulse die 100. Veröffentlichung seines Labels JEAHMON!, nur wenige Monate nach dessen zehnjährigem Jubiläum. Und es gibt weitere spannende Neuigkeiten vom Leipziger. Im Rahmen eines Ukraine-Gigs hat er einen exklusiven Reisebericht geschrieben und seine Eindrücke zu einer neuen Kolumne geformt. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen.

„Zwischen Champagner und Explosion – meine zwei Tage in der Ukraine“

Die Booking-Anfrage kam bereits im vergangenen Jahr. Ein befreundeter Veranstalter aus der Ukraine erkundigte sich nach meinem Interesse, ob ich bereit wäre, in Kyiv aufzulegen. Ich habe aber direkt abgesagt. Die Gründe dafür muss man nicht weit her holen: Krieg, Familie, Verantwortung, Sorgen. Eine gewisse Selbstverständlichkeit also, so etwas bei aller Liebe nicht zu machen.

Aber die Situation in einigen Teilen der Ukraine stabilisierte und normalisierte sich. Wochen und gar Monate lang gab es keinerlei Angriffe auf Kyiv. Die Front und die Kämpfe: Im Osten und im Süden des Landes. Die Hauptstadt schien alles unter Kontrolle zu haben, westlichere Städte sowieso. DJ-Kolleginnen und Kollegen aus ganz Europa reisten über die Zeit wieder nach Kyiv. Ich hab mit diesen und auch mit meinen ukrainischen Freunden vor Ort gesprochen, mir ständig Infos über die Lage eingeholt. Ich war stets auf dem Laufenden. Und die Anfrage wiederholte sich. Also haben wir darüber gesprochen. Immer unter Vorbehalt: Sollte sich die Lage zuspitzen, sagen wir ab. Vor ca. 6 Wochen stand dann das Date: Samstag, 23.03.2024 – Marc DePulse @ Inki Bar, Kyiv, Ukraine.

Aber wie reist man eigentlich in ein Land, welches sich im Kriegszustand befindet? Flüge gibt es natürlich keine. Also war die Zug- bzw. Autofahrt alternativlos. Mir war klar, dass ich sehr lange unterwegs sein würde. Ich bin Freitag in den frühen Morgenstunden mit dem Zug aufgebrochen. Über Berlin ging es für mich nach Warschau, dann weiter nach Lublin in Polen. Von dort hatte mich Marta, eine professionelle Fahrerin, abgeholt, um mich nach Lviv/Ukraine (kurz hinter der Grenze) zu bringen. Die Grenzkontrollen zogen sich hin, auch weil gerade ein Schichtwechsel stattfand. Weit nach Mitternacht sind wir im wunderschönen Lviv angekommen. Der Veranstalter (Antai) wollte eigentlich auf mich warten, musste aber früher nach Hause zurückkehren. Denn zwischen 0:00 und 5:00 Uhr herrscht in der Ukraine Ausgangssperre. Fühlte sich ein wenig nach déjà-vu an (Covid-Lockdown anno dazumal). Ukrainische Männer dürfen das Land übrigens nicht verlassen, daher durfte mich nur eine Frau aus Polen abholen.

Die Nacht verlief reibungslos und früh morgens ging es auch schon weiter. Diesmal fuhr Nikita, ein Freund von Antai. Die Reise führte uns weitere 6 Stunden mit dem PKW nach Kyiv. Dinge, die mir aber in den ersten Stunden schon auffielen: es waren spürbar weniger Menschen und Autos auf den Straßen als gewöhnlich und die Ortschaften außerhalb der Großstädte waren zu großen Teilen verlassen. Viele Menschen haben ihre Häuser mit Bretterverschlägen verbarrikadiert, bevor sie gingen. Und was mir auch auffiel: Selbst auf dem hintersten und letzten Dorf der Ukraine gibt es besseres Internet als in manchen deutschen Großstädten. Und an den Tankstellen auf der Strecke gab es teils ein kulinarisches Essensangebot und saubere Toiletten wie in einem Sterne-Hotel. So etwas kennt man hierzulande nicht.

Am frühen Nachmittag kamen wir der Hauptstadt näher. Etwa 50 km vor der Stadt sind wir auf der Straße gefahren, auf der russische Truppen eine Woche nach Kriegsbeginn standen. Dort war auch die meiste Zerstörung zu sehen: Zerbombte Brücken, Einkaufszentren, Tankstellen, Restaurants. Kurz vor Kyiv sind wir in eine Polizeikontrolle geraten. Der Fahrer meinte, es lag an seinem auswärtigen Kennzeichen. Jeder nicht hiesige wurde aus Sicherheitsgründen heraus gezogen. Nach zwei Minuten ging es aber schon weiter.

Der Zustand der Stadt machte mich im positiven Sinne sprachlos. Es gab keinerlei Anzeichen eines stattgefundenen Krieges. Keinerlei Zerstörung, im Gegenteil: man denkt man befindet sich in Berlin, Warschau oder dergleichen. Alles völlig normal. Keine Polizei, keine Panzer. Beschädigte Häuser oder Infrastruktur wurde restauriert. Mehr noch: es gibt wundervoll geschmückte Straßen, hübsch beleuchtete Häuser und alles ist sehr sauber und gepflegt. Es befanden sich sehr viele junge Leute auf den Straßen. Schlendernd, lachend, liebend, am shoppen. Ein Leben, wie wir es kennen. Aber wie ich es dort auf keinen Fall erwartet habe. Im Hotel haben wir direkt die Möglichkeit bekommen, auf die Dachterrasse zu gehen und die Aussicht zu genießen, ein paar Fotos zu machen. Zur Begrüßung gab es Champagner. Das Hotel befand sich im Nachbarhaus von Bürgermeister Klitschko, im Regierungsviertel. Ich war am sichersten Ort der Ukraine. Das gab mir ein gutes Gefühl. Wir hatten insgesamt sehr viel Spaß, haben viel gelacht.

 

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Das erste Mal, dass ich mit dem Krieg direkt in Verbindung gebracht wurde, war dann beim Check-In. Der Page brachte mein Gepäck ins Zimmer und erklärte mir dann den Weg zum „bomb shelter room“, dem Luftschutzbunker. „Für den Fall der Fälle“, sagte er. Zur Wahrheit gehörte auch, dass ich schon Tage zuvor mit Besorgnis die Nachrichtenlage verfolgt habe. Zuerst die russischen Angriffe auf Kyiv am Donnerstag. Die Menschen vor Ort meinten, die Medien pushen natürlich vieles. Es seien alle Angriffe abgefangen worden, einzig herunterfallende Trümmerteile haben Schaden verursacht. Am Freitag dann der Terrorangriff auf das Konzerthaus in Moskau und als ich bereits in Kyiv war, die Meldung, dass Putin die Ukraine statt die ISIS für diesen Angriff beschuldigte. Ehrlich gesagt war mir in dem Moment schon etwas mulmig zumute. Hätte ich die Reise nach diesen neuen Informationen angetreten? Ehrlich: Nein, an diesem Punkt hätte ich abgebrochen. Aber nun war ich schon einmal in der Stadt, also habe ich mich an meine Begleiter gehalten, habe meine Sorgen und Ängste geteilt, aber die Gruppe hat mir immer ein gutes Gefühl gegeben, haben Ruhe und Besonnenheit ausgestrahlt und waren selbst über ihre Telegram-Gruppen bestens informiert. Also war ich auch beruhigt.

Am frühen Abend gingen wir essen. Es waren viele Menschen unterwegs. Straßenmusiker spielten, Leute tranken, lachten und sangen, genossen das Leben in vollen Zügen. Wir mussten schon etwas früher zum Club aufbrechen. 19:00 Uhr waren wir da. Meine Playtime: 20:00 Uhr bis zum Ende. 23:00 Uhr war die Party vorüber, aus Lockdown-Gründen. Aber WAS FÜR EINE PARTY war das! Ca. 300 Leute im Club, die alle völlig ausgelassen feierten. Eine absolut großartige Atmosphäre, ich habe jede einzelne Minute genossen. An diesem Abend hat einfach alles gestimmt. Die Leute waren sehr dankbar, dass ich sie mit meiner Musik und meiner Anwesenheit erheitert habe. Es sei ja nicht selbstverständlich, dass westeuropäische Acts den langen Weg in die Ukraine auf sich nehmen. Ich wiederum war sehr dankbar, dass ich in diesen schwierigen Zeiten etwas Frohsinn geben konnte.

Wir mussten danach schnell zurück ins Hotel. Taxi-Fahrten sind um diese Zeit übrigens bereits dreimal teurer als normal. Das lag einzig an der bevorstehenden Ausgangssperre. Im Hotel angekommen musste ich erst einmal meine Eindrücke verarbeiten. Was für ein derber Abriss! Ich habe also meine social media-Kanäle gecheckt, Beiträge geteilt, mir mit einigen Leuten noch geschrieben. Leicht beschwipst aber dafür extrem glücklich und müde bin ich gegen 1:00 Uhr eingeschlafen.

Punkt 5:04 Uhr stand ich im Bett. Es gab draußen eine gewaltige Explosion. Mein Bett wackelte. Es ist noch nie so viel Adrenalin so schnell in meinen Körper geschossen. Mein Herz klopfte bis in meine Beine. So einen lauten Knall habe ich noch nie gehört. Ich wusste vorher schon über die Nachrichten, dass die meisten russischen Angriffe immer in den frühen Morgenstunden passierten. „Jetzt geht’s los“ habe ich vor mich hin gesprochen. Und ich war auf diese Situation unterbewusst vorbereitet. Ich sprang in meine Klamotten, hatte meinen Rucksack griffbereit. Verrückt: Ich hatte schon ein Kissen unter dem Arm für den Fall, dass ich die folgenden Stunden im Keller verbringen würde.

Doch dann passierte nichts weiter. Ich habe auf die Sirenen gewartet. Nichts. Nach einigen Minuten ein vorsichtiger Blick aus dem Fenster: alles ruhig. Also bin ich im Zimmer geblieben. Ich habe mich später gefragt, warum ich nicht vorsorglich einfach runter gegangen bin. Ich konnte es mir nicht beantworten. Vermutlich stand ich zu sehr unter Schock, war zudem noch nicht ganz voll da. Ich habe dann also die Nachrichten verfolgt, die natürlich zu dieser Uhrzeit noch nichts vermeldeten. Als die Sonne aufging, wurde ich entspannter. Ich habe mich wieder hingelegt, aber natürlich konnte ich nicht mehr schlafen. In solchen Momenten denkst du anders über dein Leben nach. Mein Körper war im Stress-Zustand. Ich konnte nicht mal pinkeln, obwohl ich musste.

Wir hatten uns vorher schon für eine sehr zeitige Rückreise verabredet. Beim Check-Out fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Die Rezeptionistin fragte, warum ich nicht in den Luftschutzbunker kam. Ob ich denn den Luftalarm nicht gehört habe, der seit 3:40 Uhr ging? Und das war ein Punkt, an dem ich nicht wusste, ob ich lachen oder heulen sollte. Nein, ich habe die Sirenen nicht gehört. Und trotz, dass ich immer bei offenem Fenster schlafe: Ich habe tief und fest geschlafen wie ein Baby. Das war dann im fortlaufenden Tag wie ein running Gag: Pulsi hat den Luftalarm verpennt. Das kann man sich nicht ausdenken.

Nach und nach kamen Infos rein. 10 Raketen gingen auf Kyiv, die aber angeblich abgefangen wurden. Was da genau explodierte weiß ich nicht. Will ich irgendwie auch nicht wissen. In dieser Nacht kamen keine Menschen zu Schaden, das war das Wichtigste.

8:00 Uhr morgens standen wir abfahrbereit vor der Tür als plötzlich die Sirenen wieder heulten. Ja, diesmal habe ich sie auch gehört. Und es wurde mir abermals mulmig zumute. Ich meinte zu den Leuten: „Wollen wir nicht lieber wieder ins Hotel gehen?“ Sie meinten: „Ungern, das könnte sonst noch Stunden dauern. Lasst uns einfach schnell losfahren!“. Und abermals wirkte die Runde um Antai und Nikita sehr beruhigend auf mich: „Uns wird nichts passieren, entspann dich!“. Also fuhren wir. Die Stadt war trotz Alarm voller Menschen und Autos. Es schien niemanden so richtig zu kümmern. Eine gute halbe Stunde später waren wir außer Gefahr und ich entkrampfte innerlich ganz langsam. Wir fuhren zurück nach Lviv, abermals gut 6 Stunden Fahrt. In selbiger Nacht gab es übrigens auch Angriffe auf Lviv. Eine Rakete ging 40 km nahe der Stadt nieder. Das hinterlässt leider das Gefühl, dass man nirgends im Land mehr sicher ist.

Der Rest der Reise ist schnell erzählt: Marta fuhr mich wieder über die Grenze. Der polnische Zoll hat mich diesmal komplett auseinander genommen. Ich musste sogar die Ohrmuscheln meines DJ Kopfhörers abmachen. Ich hätte ja Drogen dahinter verstecken können. Und alles nur, weil ich eine Flasche Wodka im Gepäck hatte und somit verdächtig schien.

Von der polnischen Stadt Przemyśl bin ich dann mit dem Zug nach Krakau gefahren. Natürlich habe ich mir erst mal einen Drink gegönnt und tief durchgeatmet. Von Krakau bin ich dann am nächsten Tag nach Berlin geflogen. 4 Tage Reise also für ein absolut unvergessenes Erlebnis. Ich möchte die Erfahrung nicht missen, hätte auf den Schockmoment allerdings gern verzichtet. Trotz aller Eindrücke muss man relativieren: In einer Millionenstadt kam es zu wenigen Verletzten, keinen Toten. Ich will mir das jetzt nicht schön reden aber unterm Strich war ich zu keinster Zeit in Gefahr, war stets wohl behütet und wurde exzellent versorgt. Und auch auf der Rückfahrt haben wir uns eine schöne Zeit gemacht, viel gesprochen und gelacht.

All das in jener Nacht geschehene soll meine Eindrücke vom Wochenende nicht schmälern. Ich bin unheimlich lebensfrohen Menschen begegnet, habe sehr interessante Gespräche geführt. Wir haben sehr viel gelacht und uns geherzt. Ja, Menschen sterben an der Front. Ja, andere genießen das Leben in vollen Zügen. Nein, es ist bei weitem nicht alles safe, aber auch alles nicht nur schrecklich wie medial dargestellt. Das Leben geht für die Leute dort weiter wie für uns. Sie gehen ihren Berufen, ihrem Alltag nach. Haben Freunde und Familie. Lieben und leben. Und natürlich versucht sich jeder Einzelne seine heile Welt so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Raus gehen, feiern und Spaß haben gehört dazu. Hand aufs Herz: Wir würden es doch nicht anders machen.

Ich wünsche meinen ukrainischen Freunden nur das Beste. Bleibt gesund, passt auf euch auf und hoffentlich kann ich euch bald unter besseren Umständen wieder besuchen. Dann stoßen wir wieder an. Aufs Leben.

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