Generationen im Wandel – die Kolumne von Marc DePulse

Marc DePulse – aus dem Leben eines DJs: Generationen im Wandel

Wer schon seit vielen Jahren durch die Club- und Festivallandschaft tingelt, stellt fest, dass sich durch die Pandemie ein Generations- und Zeitenwandel vollzogen hat. An manchen Tagen fühle ich mich, als wäre ich gerade aus einer Zeitkapsel ausgestiegen. Urplötzlich ist das Publikum gefühlt 20 Jahre jünger geworden, während die zumeist älteren Couch Potatoes ihr Lockdown-Leben daheim weiter genießen.

Es war November 2021 in Berlin. Ich wurde zu einer großartigen Party in den Festsaal Kreuzberg gebucht. Als ich zum Veranstaltungsgelände kam, war ich erstaunt und überrascht zugleich. Eine große Schlange vor der Tür war mir nicht neu, vor allem nicht in Berlin. Nur der Altersdurchschnitt hat mich überrascht. Es war einer dieser Momente, als ich dachte: „Verrückt, 90 Prozent der Leute hier könnten meine Kinder sein.“ Und damit nicht genug: Im Club lief exakt der Sound, den ich vor 20 Jahren schon gefeiert habe. Nur klingen die Produktionen und Anlagen heute deutlich besser. Was schön an dieser Beobachtung ist: Die junge Generation feiert weiterhin zu elektronischer Musik. Doch damit stellt sich auch die Frage: Was kommt als nächstes? Denn momentan scheint sich vieles nur zu wiederholen, wirkt ausgelutscht.

Die Pandemie hat bei uns einmal nass durchgewischt. Von allen Seiten drängen neue Leute in den Markt. Die überfüllten Züge während der Sommerzeit sind sinnbildlich: Alle drängen rein und stapeln sich, nur keiner steigt aus. Die gesamte Szene ist deutlich breiter geworden, was zur Folge hat, dass man sich gegenseitig die Luft zum Atmen nimmt. Das Angebot übertrifft schlichtweg die Nachfrage. DJs, Produzenten, Veranstalter, Brands, Manager und Nießnutzer. Talente und Mitläufer, sprich: Innovatoren und Imitatoren. Es wird unheimlich viel Masse und Kapital in den Markt gespült und daraus wieder abgeschöpft.

Natürlich kann man – aus Sicht des Konsumenten – nicht mehr auf jeder Hochzeit tanzen, das geben weder Kalender noch Portemonnaie her. Also wählt man sich ein paar wenige Events im Monat aus. Was wiederum zur Folge hat, dass die meisten Promoter nicht mehr genügend Tickets verkaufen können.

Konnte man damals noch die größten Festivals im Lande an einer Hand abzählen, gibt es heute an einem Tag so viele Events wie früher im ganzen Jahr. Es führt zu einer Übersättigung und bringt weitere Probleme mit sich. In vielen kleineren Städten bzw. strukturschwachen Regionen macht es keinen Sinn, zeitgleich drei oder mehr Events mit der gleichen Musik anzubieten, denn die Zahl der potenziellen Feierbiester ist beschränkt. Doch es gibt diese Events zuhauf. Sie sprießen aus dem Boden. An jeder Milchkanne findet ein Rave statt.

Zudem: Aus jedem noch so kleinen Subgenre gibt es hundert mehr oder minder bekannte Gesichter, die teils das Gleiche spielen. Es ist deutlich schwerer geworden, ein Alleinstellungsmerkmal für sich zu finden, denn keine/r erfindet das Fahrrad neu. Zumal sich der Fokus verschoben hat. Ging es damals noch um die Qualität der Musik, geht es heute mehr um Stil, Marke und soziale Präsenz. Die Folgen sind ausbleibende Bookings für einen Großteil der „Mittelklasse“-Acts, leere Kassen für Clubs und Veranstalter, leere Taschen für die Gäste – die sowieso das Gefühl verloren haben, bei etwas Besonderem Gast zu sein. Zu sehr überfordern die Möglichkeiten, zu vielfältig ist die Auswahl, teils zu kommerziell das Konzept. Ausnahmen bestätigen freilich die Regel.

Und die ältere Generation? Ich kann mich gut an meine Anfänge erinnern. Ich war immer zusammen mit etlichen Freunden unterwegs, manchmal waren das sogar zehn bis zwanzig Leute. Heute reise ich immer öfters allein. Die meisten Leute in meinem Alter haben Familie, Arbeit, Trägheit, Rücken. Keiner will mehr zu unchristlichen Zeiten feiern, doch hochleben die Tageslicht-Events. Es bleibt also spannend und abzuwarten, wohin uns diese ganze Entwicklung führt. Und davon werden wir alle Zeugen sein.

 

Aus dem FAZEmag 128/10.2022
Text: Marc DePulse
www.marc-depulse.com

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