Track-Check: Marmion – Schöneberg (Superstition Records, 1993)

Mit ihrer „Berlin EP“ lieferten Mijk Van Dijk und Marcos López alias Marmion 1993 die erst vierte Veröffentlichung auf der damals frisch gegründeten Label-Koryphäe Superstition Records. Allen voran der Track „Schöneberg“ sorgte anschließend für reichlich Furore in der internationalen Szene und genießt bis heute einen legendären Status unter den House- und Tech-House-Hymnen. Mijk van Dijk über die Entstehung eines Klassikers, der zeitweise über 20 Jahre nicht erhältlich war.

Hallo, Mijk. „Schöneberg“ transportiert ja von Beginn an einen einmaligen Vibe und entfaltet einen unnachahmlichen Flow. Wie seid ihr werktags im Studio aus dem Kaltstart in diese Stimmung gekommen? 

„Schöneberg“ war kein Kaltstart, sondern die Inspiration eines langen Wochenendes voller guter Vibes. Marcos und ich hatten gemeinsam am Samstag im legendären Bunker Club in Berlin aufgelegt und bereits einen klaren Plan, mit welchem Groove wir anfangen wollten. Anschließend hieß es dann: „Go with the flow“.

Der Track funktioniert vor allem wegen seines Arrangements. Wie ist dessen Prozess entstanden? Im Live-Jam oder stundenlangem Ausprobieren? 

Wir haben erstmal mit dem Groove begonnen. Marcos hat dann immer gefragt: „Was brauchen die Tänzer*innen als Nächstes?“, und so entwickelte sich der Groove im Cubase-Arrangement kontinuierlich immer weiter, bis zum ersten Break.

Gerade die Breaks kommen sehr überraschend und heben den Track auf eine neue Ebene. Wie seid ihr darauf gekommen? 

Unser mittlerweile fast schon berühmt gewordener sogenannter „Nullbreak“ war wieder eine spontane Idee. Wir wollten den Tänzer*innen noch einmal kurz eine Atempause gönnen, um dann den Turbo zu zünden. Mehrere Artists haben mir in den letzten 30 Jahren gesagt, dass der „Nullbreak“ sie inspiriert habe, etwas Ähnliches zu machen. Im Film „Magical Mystery“ ist er sogar zum Soundtrack der Kuss-Szene geworden. Fand ich klasse.

Auch in der heutigen Zeit wirkt eure monotone, treibende Bassline unglaublich knackig und hart. Wie ist der Sound entstanden? 

Der Bass ist tatsächlich ein FM-Synthesizer-Preset und for those who know auch kein großes Geheimnis mehr. Wir hatten 1993 ja noch keine digitalen Workstations mit Plug-ins und konnten nicht Dutzende Kompressoren auf jeden Signalkanal knallen. Drums und Bass gingen direkt aus den Hardware-Geräten auf ein billiges Roland24-Kanal-Pult, wo im Insert noch ein Alesis-Kompressor zwischengeschaltet war. That’s it! Mit dem gleichen Alesis-Kompressor sollen übrigens auch Daft Punk ihr „Homework“-Album gemischt haben.

Mit dabei sind unzählige klassische Key-, Chord- und Melodiesounds. Woher kamen die damals und wo würdet ihr heutzutage solche klassischen Trance-Sounds hernehmen? 

Das Setup, mit dem wir „Schöneberg“ aufgenommen haben, kann man ziemlich gut in der zeitgenössischen Techno-Doku „TechnoCity Berlin“ ab Minute 2:49 betrachten. Ein TV-Team hatte mich 1993 im Studio besucht und gefilmt, wie man Techno macht. Dort sieht man dann den Sampler, den Atari, das Mischpult und auch den Roland Jupiter-6, mit dem wir die hymnische Akkordsequenz gegen Ende von „Schöneberg“ gemacht haben.
Der Jupiter war nur geliehen und wir dachten, dass man den einfach benutzen muss, wenn er schon mal dasteht. Die „gegateten“ Chor-Sounds haben wir ganz klassisch mit dem Sidechain-Trigger-Eingang unseres zweiten Kompressors gemacht. So etwas geht jetzt natürlich viel einfacher, z.B. in Ableton mit dem Gate-Plug-in.
Überhaupt stehen Producern heutzutage unzählige Plug-ins zur Verfügung, u. a. auch verblüffend gute Emulationen klassischer Synthesizer. Mit der Arturia V-Collection und Synths wie dem Jupiter-8 und dem DX-7 könnte man die meisten Sounds in „Schöneberg“ heute gut nachempfinden. Aber noch besser: Ihr macht etwas Eigenes!

TechnoCity Berlin Teil 1

In Zeiten von KI, Shortcuts, Plug-ins und Samples ist man heute sehr schnell mit einem Track fertig. Wie sah das bei euch damals aus, wie lang dauert so etwas in einem Hardware-basierten Studio? 

„Schöneberg“ haben wir in einer langen zwölfstündigen Session produziert und direkt auf DAT aufgenommen. Für gute Mehrspurmaschinen fehlte uns das Geld und bezahlbares Harddisk-Recording gab’s noch nicht. Das Studio habe ich mir damals mit meinem Freund und LoopZone-Live-Partner Hannes Talirz (u. a. „Positive Thinking“ auf MFS) geteilt. Marcos und ich wollten mit dem Track fertig werden, auch weil Hannes am nächsten Tag seine Studiozeit hatte.
Tage später bekamen Marcos und ich beim Anhören der DAT-Aufnahme Zweifel, ob der Mix wirklich perfekt ist und gingen nochmals in mein Studio. Aber da hatte Hannes Talirz, mit dem ich mir das Studio damals teilte, natürlich schon das nach seinem Belieben umjustiert. Wir haben stundenlang vergeblich versucht, den Mix zu rekreieren und dann irgendwann die weisen Worte gesagt: „Ist egal, wir lassen das jetzt so!“
Und tatsächlich war das die beste Entscheidung. Als wir die noch ungemasterte Version von „Schöneberg“ bei unserem nächsten gemeinsamen Gig ebenfalls im Bunker von DAT spielten, war die Tanzfläche sofort am Kochen und uns war klar: „Der Mixdown ist super. Das wird ein Hit!“
An diesen Moment erinnere ich mich immer gerne zurück, wenn ich mal wieder an einem Track zu lange rumbastle. Denn in Zeiten von DAWs mit Total Recall passiert es auch häufig, dass man nicht zum Ende kommt und immer noch mal hier und da was verändern will. Und überhaupt: Einfach mal zu sagen „Das ist jetzt fertig“, ist großartig befreiend.

Was sind eure drei Tipps für unsere Leser, um Tracks mit dem tranceartigem, treibendem Vibe von „Schöneberg“ zu produzieren? 

Go with the flow. Weniger ist mehr. Und der Grund-Groove muss stimmen. Wenn der Basic Loop nicht schon allein geil ist, dann wird es auch mit vielen weiteren Sequenz-Schichten nicht besser.

Im Studio war damals einer von euch „das Gehirn“, der andere „die ausführende Hand“. War das der perfekte Workflow für euch? 

Wichtig ist mir bei jeder Zusammenarbeit stets, dass der gemeinsame Flow stimmt. Natürlich habe ich in meinem Studio den Atari und den Sampler bedient, aber auch Marcos hat Samples beigesteuert und Synthesizer-Linien eingespielt. Und der Track „The Secret Plant“ von der Berlin EP basiert fast komplett auf Patterns, die Marcos in seinem Roland-R8-Mk.II-Drumcomputer arrangiert hat. Ich würde also eher von einer guten Symbiose sprechen und nicht von „Hirn“ und „ausführender Hand“. Ich mag es aber auch, mit anderen ausführenden Produzenten zu arbeiten und selbst vom Studiosofa aus Ideen beizusteuern, weil man einfach anders „hört“, wenn man etwas Abstand von der Programmiererei in der DAW hat.

 

Das letzte Repress der Platte ist 2021 via Superstition Records erschienen.

Aus dem FAZEmag 137/07.2023
www.instagram.com/mijk_van_dijk

 

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