Schwebende Geister – die Kolumne von Marc DePulse

Marc DePulse – aus dem Leben eines DJs: Schwebende Geister

 

Volle Clubs, drückende Bässe, strahlende Gesichter, ein paar Drinks zu viel. Fotos, die uns Social Media dieser Tage als Erinnerung zum Teilen anbieten, wirken wie aus einer anderen Zeitrechnung. Es ist im März nun genau ein Jahr her, als man sich noch ausgelassen in den Armen lag und die Nächte durchzog, bis die Wolken wieder lila waren. Zeiten, in denen Masken noch zu Themenabenden gehörten und Sperrstunden einen ganz anderen Hintergrund hatten.

Ein Jahr später schweben wir nun über diesen Dingen wie Geister aus einer anderen Dimension. Wir kreisen über dem, was einst war und das in unseren Erinnerungen langsam verblasst. Das Foto zeigt mich übrigens in Leipzigs Barfußgässchen, der bekanntesten Kneipenmeile meiner Stadt, die seit Monaten schon wieder wie ein Sperrgebiet aussieht. Es ist gespenstig und ernüchternd, durch diesen Ort zu spazieren. Verstand man dort einst sein eigenes Wort nicht mehr, so könnte man heute eine Stecknadel fallen hören.

Anfang März 2020 spielte ich das letzte Mal in Normalität. Nach dem Stubenarrest folgten etliche Livestreams und ein paar Gigs im kleineren Rahmen, zumeist outdoor. Auch, als es schon deutlich kälter wurde. Vom Geld verdienen war da schon lange keine Rede mehr. Man hat sich über jede noch so kleine Möglichkeit gefreut, um einfach mal wieder auflegen zu dürfen und ein Stück weit seinen Alltag von einst zurück gewinnen zu können, Freunde zu treffen, Spaß zu haben. Auch, wenn vieles mit bedächtigem Abstand und Anstand geschah.

Die Pandemie hat nun auch den letzten gehypten Act aus der Traumwelt gerissen. Exorbitante Gagen werden in den nächsten Jahren wohl kaum mehr gezahlt – auch das holt wohl einige gerade aus ihrer Scheinwelt zurück. Viele der Locations, die man einst so regelmäßig bespielte, werden vermutlich einen Museumscharakter im Kopf einnehmen, einfach, weil sie für immer schließen werden. Und doch werden neue Dinge entstehen und wir werden diese Schritte mitgehen. Weil es unser Beruf und unsere Berufung ist. Und weil ein Neuanfang immer auch Chancen birgt. Wann auch immer dieser sein wird.

Sehen viele schon Licht am Ende des Tunnels, fehlt mir aktuell der Optimismus. So sehr man sich auch das Jahr ’21 herbeisehnte, so schnell kam die Ernüchterung. Ein vorsichtiger Blick voraus? Dem sicherlich ganz passablen Sommer folgt aller Voraussicht nach wieder eine kalte Jahreszeit voller Fragezeichen und Kopfschütteln. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt, wenn da immer noch ein Strohhalm in der Weinschorle baumelt, an dem man sich festhalten kann.

Zugegeben: Einige Dinge aus der alten Welt fehlen mir nicht. Das ewig lange Reisen von A nach B, das Alleinsein, der stressige Zeitplan zwischen den Gigs. Zudem: Der wenige Schlaf und – damit verbunden – der sich ständig wechselnde Biorhythmus. Ich bin zu Teilen froh über mein neues Dasein. Ich treibe Sport – mehr denn je – und habe die Zeit, Lust und Ruhe, täglich frisch für meine Familie zu kochen. Ich schlafe ausreichend, gehe mitunter gar um 21:00 Uhr ins Bett und bin an manchen Tagen schon um 06:00 Uhr morgens völlig ausgeschlafen. Tage haben wieder eine normale Länge, hatte man doch früher erst das Licht der Welt entdeckt, als die Sonne schon am höchsten stand. Denn da hat man sich wochentags noch vom zurückliegenden Wochenende erholt. Und nach vollzogener Regeneration saß man meist schon wieder im Raumschiff für das nächste Abenteuer.

Und trotzdem fehlt der ganze Rest. Seine Musiksammlung einmal laut hören und mit anderen feiern, die Gespräche und Geschichten, das kühle Getränk in der Hand und das Dauergrinsen im Gesicht, wenn man mit der Crowd verschmilzt. Es fehlen einfach die Orte, an denen man so gerne war und wo man Momente mit so vielen wunderbaren Menschen teilen und genießen konnte. Menschen, die das alles so besonders gemacht haben. Es fehlt, aber es wird wiederkommen. Allein diese Hoffnung hält mich bei Laune, denn solche Erinnerungen verblassen nie.

 

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